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Oper mit theologischen Mucken

Jörn Arneckes „Kryos“ in Bremen uraufgeführt · Von Christian Tepe

Die Erde nach der großen Klimakatastrophe des 22.Jahrhunderts: Menschen existieren nur noch auf Kryos, einer schneebedeckten Insel inmitten des toten Weltenmeeres. Eine Wissenschaftler- und Technikeroligarchie trägt die Verantwortung für das physische Überleben der Inselpopulation. Das seelische Band der Menschen bildet ein sinnentleerter Religionsersatz, das Spektralklangmysterium, bei dem sich alle Stimmen der Bewohner zu einem rituellen Chor der Selbstbeschwörung vereinen. Es ist quasi ein Abendmahl ohne Jesus. Aber dann betritt doch noch ein Fremder wie ein Prophet den Schauplatz und macht alle Spektralklangharmonie zuschanden. Dieser Fremde singt nicht, sondern er spricht, denn er verkündet die Wahrheit: Kryos wird untergehen, wenn die Menschen nicht endlich der Vergötzung eines Kristalls entsagen, das als ein optisches Korrelat des Spektralklangs den Verlust echter Sinneserfahrungen und Gefühle auf der öden Insel kompensieren soll. Der Preis für die Erbeutung des Kristalls ist jedoch die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen auf Kryos.

 
Gefangene des Spektralklangmysteriums: die Klone von Kryos. Ensemble und Chor in Jörn Arneckes
 

Gefangene des Spektralklangmysteriums: die Klone von Kryos. Ensemble und Chor in Jörn Arneckes
spektakulärer Choroper. Foto: Jörg Landsberg

 

Konformistische Erstarrung in „Stabilität und Harmonie“, metaphysische Demenz und eine totale Ästhetisierung des Lebens prägen dieses neue depravierte Menschsein, dessen Operntauglichkeit nun in Bremen beurteilt werden kann. Wie vor ihr schon zahlreiche Literaten und Filmemacher segelt Librettistin Hannah Dübgen im Fahrwasser von Michel Houellebecqs Roman „Elementarteilchen“. Dabei ist die Autorin nicht ganz frei von einer unterschwelligen Faszination für diverse Facetten ihrer Zukunftsvision wie zum Beispiel die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung oder jene diskrete Form von Euthanasie, die man auf Kryos pflegt. Eine wirkliche Anti-Utopie wird daraus erst in der kompromisslosen Inszenierung von Philipp Himmelmann, der die doch recht pennälerhaft anmutende Koketterie Dübgens mit den Eugenik-Planspielen um der ethischen Eindeutigkeit willen hintansetzt. Himmelmann hat eine uniforme Gefängniswelt aus lauter Klonen kreiert, in der jeder ohne Ansehen seiner gesellschaftlichen Stellung nur ein Häftling ist. Die Ununterscheidbarkeit der Personen, die Maskenhaftigkeit der Menschen mit ihrem geronnenen Lächeln werden als das unausweichliche Ende systematischer eugenischer Optimierung kenntlich gemacht. Dafür nimmt der Regisseur die Simplifizierung der Figuren in Kauf und steigert so den schon im Stück gärenden Kontrast zwischen Musik und Handlung.

Hannah Dübgen und Komponist Jörn Arnecke hatten eigentlich eine integrale Verschmelzung von Musik und Geschichte angestrebt. Vordergründig ist dies auch gelungen. Das veranschaulichen die durch Opulenz und luxuriösen Sensualismus beeindruckenden Massenzeremonien um den Spektralklang. Der Chor des Bremer Theaters stellt sich bei dieser seltenen Uraufführung einer spektakulären Choroper erneut als eine vitale, impulsive Sängergemeinschaft vor. Man fragt sich nur, wie die seelenlosen Phantome aus Himmelmanns Regiearbeit überhaupt zu einer solchen Fülle und Kraft des Chorklangs fähig sein können. Oder ist dies der Ausdruck eines ästhetischen Wertewandels, bei dem sinnlicher Glanz und Schönheit nur noch als Menetekel der nahenden Katastrophe fungieren? Auch der Orchestersatz leuchtet in gleißenden Farben und bleibt doch bei aller Pracht von einer glasigen Transparenz wie das Leben auf Kryos. Arneckes Musik, bestechend klar interpretiert von den Bremer Philharmonikern unter GMD Markus Poschner, ist auf eine fast unheimliche Weise perfekt.

Die künstlerischen Lehrjahre Arneckes säumen Namen wie Gérard Grisey oder Peter Michael Hamel. Seine neue Oper offenbart jedoch den Einfluss eines weitaus älteren Ahnherrn; auf frappierende Weise erinnern Arneckes obertonreiche Farbspektren an die Klangfarbenexperimente des späten Leos Janácek, zum Beispiel in der „Sinfonietta“. Diese Reminiszenzen reichen bis ins Vokale, wenn die Gesangslinien der Solisten ausdauernd um feststehende Tonpunkte zirkulieren. Für die Partie der Maja, die den Fremden liebt, sich ein Kind von ihm wünscht und damit in einen nur durch Tod oder Flucht lösbaren Konflikt mit dem Sittenkodex auf Kryos gerät, hat Janáceks „Katja Kabanowa“ gleichsam die musikalische Patenschaft übernommen. Tamara Klivadenko singt die Maja mit dem Ausdruck scheuer Zärtlichkeit. Der Vergleich mit „Katja“ rührt indes an die empfindlichste Stelle in der Dramaturgie dieser Oper. Im Kern geht es erneut um die gesellschaftlich nicht gebilligte Liebe einer Frau. Um diese zwar konventionelle, aber weiterhin aktuelle Geschichte heute noch einmal erzählen zu können: Bedurfte es da tatsächlich der Verkleidung durch eine so gigantisch aufgeblähte, theologisch verbrämte Science-Fiction-Saga?

Christian Tepe

 

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