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63 Freunde müsst Ihr sein
Ausbildung zum Chorsänger beim Rundfunkchor Berlin · Von
Martin Hufner
Deutschland scheint infolge der Bologna-Reformen geradezu ein
Mekka für exotische Studiengänge geworden zu sein. Fast
alles lässt sich studieren. Da mag es den einen oder anderen überraschen,
dass es in Deutschlands Universitäts- und Hochschullandschaft
keine eigene Ausbildung zum Chorsänger gibt. Dass dies an
der Hochschule vernachlässigt wird, stellte bereits der ehemalige
VdO-Geschäftsführer Stefan Meuschel im Musikmagazin des
Bayerischen Rundfunks „taktlos“ zum Thema Chorsänger
im Jahr 2003 fest: „Ich glaube, es gibt ein Kernproblem beim
Gesangsunterricht: Es ist ja doch ein Lernberuf und kein wissenschaftlicher
Beruf. Deswegen müsste bei der Ausbildung viel mehr Wert darauf
gelegt werden, dass sie a) im Zusammenhang mit der Praxis steht
und dass sie b) zielorientiert auf das hin erfolgt, was dem Sänger
abverlangt wird.“
David Stingl, Sänger im Rundfunkchor Berlin: „Es gibt
ein paar Chorstudiengänge in Deutschland, das läuft aber
meistens nicht so ideal. Denn bei vielen Hochschullehrern lässt
sich die Einstellung beobachten, dass Chorsänger Sänger
zweiter Klasse sind. Chorgesang hat an vielen Hochschulen leider
einen eher schlechten Ruf. Das Problem: Man kann an Hochschulen
zwar solistisch bereits früh Erfahrungen in Opernproduktionen
machen. Aber man kann dort nicht die Erfahrung machen, wie es ist,
in einem wirklich guten Ensemble zu singen. Die Hochschulchöre
können das nicht leisten.“ Sören von Billerbeck,
ebenfalls Sänger im Rundfunkchor Berlin, sieht es ähnlich: „Der
Beruf der Rundfunkchorsängerin, des Rundfunkchorsängers
hat immer noch ein schlechtes Image.“
Die professionellen Chöre leiden unter Sängermangel.
Die Anforderungen eines Rundfunkchores beispielsweise sind so hoch,
dass viele freie Stellen nicht besetzt werden können. Insbesondere
zweite Bässe, hohe Tenöre, hohe Soprane und tiefe Altstimmen
seien Mangelware, sagt Sören von Billerbeck. „Es ist
ja nicht so, dass ein verkappter Solist in den Rundfunkchor geht.
Anders herum wird ein Schuh draus“, erklärt Chorleiter
Michael Gläser in der genannten „taktlos“-Sendung. „Wir
brauchen Kolleginnen und Kollegen, die perfekt als Chorsänger
ausgebildet sind. Sie müssen vielen Anforderungen gerecht
werden: Sie müssen sehr musikalisch sein, sehr gut vom Blatt
singen und sehr viele stilistische Richtungen beherrschen. Und
deshalb ist es schwierig, wirklich gute Leute zu finden.“ So
verwundert es nicht, dass man auch im Chorbereich endlich Nägel
mit Köpfen macht. In Berlin, angesiedelt beim Rundfunkchor,
wurde dieses Jahr im März eine Chorakademie ins Leben gerufen.
Worum geht es dabei? Die Ausbildung in der Chorakademie dauert
ein halbes Jahr. Angesprochen werden Sängerinnen und Sänger
noch vor Abschluss ihres Studiums, aber nach Erreichen der Zwischenprüfung.
Für die Akademie müssen sich die Akademisten ein Urlaubssemester
genehmigen. In diesem Semester laufen sie bei der ganz normalen
Chorarbeit mit; jedoch nicht als „billige Arbeitskraft“ oder
als Konkurrenz zu freien Chormitarbeitern – Konzertieren
ist zunächst tabu. Man darf sich die Akademie aber nicht übermäßig
akademisch vorstellen. Die jungen Sängerinnen und Sänger
werden von einem Mentor betreut, der aus ihrer Stimmgruppe stammt.
Ansonsten lernen sie bei der Arbeit eben alles, was man zum Chorsingen
können sollte. Das reicht vom Interpretieren der Musik über
das Partiturlesen bis zum Interpretieren von Dirigentenschlagbildern.
Ferner bietet die vollwertige Mitarbeit in einem professionellen
Rundfunkchor die Möglichkeit, Chormusik auf höchstem
Niveau zu betreiben. Neben dem Kennenlernen von renommierten Chordirigenten
stehen den Akademisten auch die Erfahrungen der 63 ständigen
Chorsängerinnen und -sänger zur Verfügung. Im Rundfunkchor
lernt man zudem eine vielfältige Literatur kennen. Gesungen
wird hier Chormusik aller Zeiten. Hinzu tritt unter Umständen
eine CD-Produktion oder Ähnliches. Und neben der Musik wird
man Erfahrungen mit dem „Wesen“ des Chores an sich
machen. Ein Chor ist ein soziales Gebilde, bei dem der Gesamtklang
entscheidend ist – und das funktioniert nur im Kollektiv;
beim gemeinsamen Singen müssen es 63 Freunde sein. „Ich
denke, dass ein Chor nur so gut klingt, wie er sich miteinander
versteht. Es geht um die Bereitschaft miteinander zu musizieren,
und das setzt voraus, dass man auch menschlich miteinander möchte
und kann“, so Michael Gläser. Ähnliche Anforderungen
existieren musikalisch übrigens auch im Opernchor, meint Sören
von Billerbeck. An der Akademie lerne „man schnell Musik“,
gemeinsames Singen – und das in hohem Tempo, so dass der
Besuch dieser Akademie auch für den Opernchor schule. Für die Zeit des Akademieaufenthaltes erhalten die Akademisten
eine monatliche Entschädigung von 400 Euro. Nach acht Wochen
gibt es die Möglichkeit, die „Konzertreife“ zu
erwerben. Das wird in einem Gespräch mit dem Chefdirigenten
und dem Mentor entschieden. Sollte der Akademist die Konzertreife
erreichen, ist für ihn nicht mehr vor der Generalprobe Schluss.
Er darf dann auch im Konzert mitsingen. Das hat auch finanzielle
Vorteile für den Akademisten, denn er kommt dann in eine andere
Vergütungsstruktur. Sollte er nach acht Wochen noch nicht
so weit sein, besteht auch später wieder die Möglichkeit,
die Konzertreife unter Beweis zu stellen.
Unakademisch ist auch der Abschluss. Die Teilnehmer erhalten
eine Urkunde – es handelt sich also nicht um ein staatliches Zertifikat.
Gleichwohl dürfte Akademie-Teilnehmern allein die halbjährige
professionelle Mitarbeit in einem weltweit hochgeschätzten
Ensemble genügend Impulse und wertvolle Erfahrungen gebracht
haben, dass sie nach Erlangen des Abschlusses ihrer künstlerischen
Ausbildung an einer Musikhochschule besser vorbereitet sind auf
das, was man hier tatsächlich „Vorsingen“ nennen
darf.
Einen Wehmutstropfen aber gibt es. Pro halbjähriger Akademiepräsenz
ist nur Platz für vier Akademisten. Der Eintritt erfolgt gleitend
und ist nicht auf bestimmte Zeitpunkte fixiert. Im Moment haben
sich 30 Bewerbungen angesammelt, sagt Sören von Billerbeck,
der den Aufbau der Akademie mit konstruiert hat. Billerbeck hegt
aber die Hoffnung, dass andere Rundfunkchöre auf den gleichen
Zug aufspringen werden und es dem Rundfunkchor Berlin nachtun.
Eine Anbindung an die Hochschulen ist auch geplant. Erste Kontakte,
so Billerbeck, seien gemacht, und man sei dabei auf offene Ohren
gestoßen. Doch leider scheint das Unterfangen immer noch
schwierig. „Bewerber der Akademie berichten schon einmal,
dass sie gefragt worden seien: ‚Was, Du willst zum Rundfunkchor?
Ich denke, du willst Sänger werden!‘“, erzählt
Sören von Billerbeck. Martin Hufner |