Jedem Kind seine Stimme
Erfolgreiches und prämiertes Projekt in Neuss · Von
Barbara Haack „Jedem Kind ein Instrument“: Das im Ruhrgebiet angesiedelte
Programm eines flächendeckenden Musikunterrichts für
Kinder hat weit über die regionalen Grenzen hinaus Wirkung
gezeigt. Überall in Deutschland entstehen inzwischen Projekte
mit guten und anregenden Ideen, um möglichst alle Kinder frühzeitig
mit dem Musizieren vertraut zu machen. Auch Modelle, die der Musikalisierung
durch das Singen den Vorzug geben, werden ins Leben gerufen. An
der Neusser Musikschule gibt es seit 2007 das Modellprojekt „Jedem
Kind seine Stimme (JeKi-Sti)“, das nun beim bundesweit ausgeschriebenen
Wettbewerb „Kinder
zum Olymp!“ einen ersten Preis in der Sparte „Musik
in der Grundschule“ gewonnen hat.
Initiiert wurde „JeKi-Sti“ vom Leiter der Musikschule,
Reinhard Knoll. Ausgangspunkt war die Tatsache, dass viele Kinder,
wenn sie in die Schule kommen, überhaupt nicht mehr singen
können. Was die Eltern nicht vor-, können ihre Sprösslinge
nicht nachmachen. „Singen können“ heißt,
so Holger Müller, Projektleiter von „JeKi-Sti“,
erst einmal Töne und Melodien hören und nachsingen können,
aber auch den richtigen Umgang mit der Stimme erlernen. Ursprung des Musizierens
In Neuss wurde also der Gesang zur Basis des Gesamtprojekts gemacht – aus
der Überzeugung heraus, dass das Singen der Ursprung des „musikalischen
Handelns“ ist, auf dem viele Entwicklungen beruhen. Deshalb,
so Reinhard Knoll, beginnt „JeKi“ in Neuss mit den „Instrumenten“,
die allen Kindern zur Verfügung stehen – der Stimme
und dem Körper.
Das Modell sieht eine durchgehende Tandem-Lösung vor: Ausgebildete
Gesangspädagogen schließen sich mit jeweils einer Grundschullehrkraft
zusammen und unterrichten die Grundschulklassen gemeinsam mit diesen.
Die unterschiedlichen Kompetenzen ergänzen sich hier sehr
gut. Das Modell ist nicht neu und hat sich inzwischen in vielen
Zusammenhängen bewährt. In Neuss wird darauf Wert gelegt,
dass – unter Berücksichtigung bestimmter Lehrplan-Vorgaben – vieles
individuell und vor Ort gestaltet wird. Das hängt ab von den
Gegebenheiten in der Schule, der Zusammensetzung der Klassen und
den Lehrer-Persönlichkeiten.
Im Rahmen von „JeKi-Sti“ entdecken die Kinder die eigene
Singstimme in altersgerechter Stimmlage und entwickeln ihre Sing-
und Sprechstimme spielerisch. Einerseits geht es um den kreativen
und aktiven Umgang mit Musik, andererseits um das Entwickeln eines
gemeinsamen Liedrepertoires. Besonderes Augenmerk wird im Übrigen
auf die Sprache gelegt: Die Entwicklung einer gesunden Singstimme
ist untrennbar mit einer gut und gesund funktionierenden Sprechstimme
gekoppelt. Atemübungen gehören dabei zum Unterricht,
aber auch Körpererfahrung, Körperwahrnehmung und Bewusstsein
für den Raum und die Gruppe. Durch das Experimentieren mit
Klängen und Geräuschen wird das kreative Potenzial angeregt
und eigenverantwortliches Lernen praktiziert. Alle Kinder singen gerne Inzwischen beginnt das Projekt bereits in der ersten Grundschulklasse.
In der zweiten Klasse wird im Rahmen des Tandem-Unterrichts kostenlos
ein Instrumenten-Karussell angeboten, das einen Einblick in die
unterschiedlichen Instrumente ermöglicht. Es gibt in der 3.
und 4. Klasse neben dem Instrumentalspiel die Möglichkeit,
das Singen zu intensivieren, beispielsweise im Jahrgangsstufenchor,
in Chorklassen, als „Singpause“ oder in anderen Singangeboten
der Schulen. Das Schöne an der Arbeit mit den jüngsten
Schulkindern ist, so Holger Müller, dass sie in diesem Alter
noch ganz und gar offen sind gegenüber jeder Art der musikalischen
Artikulation und der Bewegung. Hemmschwellen oder Ängste gibt
es noch nicht. „Alle Kinder singen gerne Lieder.“
Jährlicher „JeKi-Sti“-Höhepunkt ist das große
Konzert im Neusser Zeughaus, in dem mehr als 500 Kinder die Lieder,
die sie im Lauf des Jahres erlernt haben, vorsingen – mit
dazu passenden Choreografien selbstverständlich. Daneben singen
die Kinder unter dem Motto „Singen tut gut“ in Altersheimen
oder Krankenhäusern. Inzwischen machen alle 26 Neusser Grundschulen
mit, die Resonanz ist positiv bis begeistert. Eine unabhängige
Evaluation des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Heinrich-Heine-Universität
Düsseldorf belegt den
Erfolg auf wissenschaftlicher Ebene. Es wurden qualitative und
quantitative Befragungen durchgeführt. Das Ergebnis bei den
Eltern: „Fast 100 Prozent der Befragten befürworten
eine Fortführung des Gesangsunterrichts – unabhängig
davon, ob sie diesem nun eine unmittelbare, deutlich erkennbare
Auswirkung auf die Entwicklung ihrer Kinder zusprechen oder nicht.
Man könnte daraus schlussfolgern, dass Eltern durchaus die
Eigenständigkeit von musikalischer Bildung und musikalischer
Förderung wertschätzen. Und: „‚JeKi-Sti‘ ist
für jede Schule ein Geschenk. Bitte weiter so!“ ist
nur eine von vielen positiven Rückmeldungen aus dem Kreis
der Lehrer.
Finanziert aus Mitteln des Landes Nordrhein-Westfalen, der Stadt
Neuss und der Jubiläumsstiftung der Sparkasse Neuss, wurde
das Projekt soeben um drei Jahre verlängert. „JeKi-Sti“ ist
nicht der Weisheit letzter Schluss, sagt Holger Müller und
berichtet, dass man in regem Kontakt zu Anbietern anderer Modelle
steht. Ein solcher Austausch kann sicher allen nur gut tun.
Barbara Haack |