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Sinfonie in Blaurotweiß
Choreografien von Juraj Kubánka in Bautzen · Von
Christian Tepe
Wer heute die Begriffe Volkstanz oder Brauchtum hört, der
denkt womöglich mit Schauder an die Sterilität und aufgesetzte
Heiterkeit, mit der Rundfunk und Fernsehen ihre erbarmungslosen
Verkitschungen der Volkskultur dem Publikum auftischen. Viele Rezipienten
haben deshalb die Folklore schon längst als minderwertige
Illusionskunst und Lüge abgeschrieben. Das ist verständlich,
bleibt aber ein Fehlurteil. Man muss nur die sorbische Lausitz
bereisen, um zu erfahren, dass „der ewige Erb- und Lustgesang
des Volkes“ (Herder) doch noch nicht ganz verklungen ist.
Der Nährboden dafür ist die autochthone Weiterentwicklung
einer in der Alltagswelt verankerten sorbischen Sprache. Zudem
sind die Sorben ein Volk mit einer eminenten Veranlagung für
alle Formen von hoheitsvollen theaterähnlichen Schaustellungen.
Was jedoch für die Touristen vielleicht nur, wie im Falle
des Osterreitens, ein interessantes Kulturphänomen darstellt,
hat für die Sorben Aussage, Sinn und Bedeutung als Ausdruck
einer umfassenden Lebensphilosophie.
Dies alles hat direkte Folgen für die Aufgaben und die Ästhetik
eines professionellen sorbischen Theaters. Das 1952 gegründete
Sorbische National-Ensemble war denn auch keine Erfindung von Funktionären,
sondern eine Gabe aus dem Volk, was gerade in Hinblick auf die
künftige Entwicklung des Hauses gar nicht genug betont werden
kann. Während Gründungsdirektor Jurij Winar die Tänzer
und Sänger des Ensembles also vorwiegend aus der sorbischen
Jugend gewann, pflegte sein Nachfolger Handrij Ziesch im Sinne
slawischer Wechselseitigkeit enge Kontakte zum slowakischen Volkskunstensemble
SL’UK und holte den slowakischen Choreographen Juraj Kubánka
nach Bautzen. Mit Kubánka hielt die artistische Brillanz
osteuropäischer staatlicher Volkstanzcorps im SNE Einzug und
ging dabei eine überaus glückliche Synthese mit der überkommenen
sorbischen Motivik ein. Aus dem kostbaren Schatz dieser kleinen,
durch Folklore inspirierten Gesamtkunstwerke aus Choreografie,
Tracht, Gesang und Musik hat das SNE nun einen neuen Zyklus arrangiert.
Kubánkas Arbeiten sind eine tänzerische Apotheose
von Szenen aus dem Dorfleben, wobei stets der jeweils charakteristische
Zusammenhang mit Brauchtum und Überlieferung der verschiedenen
Regionen der Lausitz bewahrt bleibt. So bestimmen dramatisch ausdrucksstarke
Momente aus dem Lebenskreis von Geburt, Liebe und Tod die Gesangs-
und Tanzszene „Glocken“. Virile Kraft und Vitalität
prägen die heidnischen „Hirtenspiele“, wenn die
Tänzer einen zirzensischen Schlagtanz mit Stöcken austragen,
die sie auf den Boden oder auch gegeneinander prallen lassen. Eine „Niedersorbische
Hochzeit“, durchpulst von unbändiger Tanzlust, zieht
als ein choreografisches Vergnügen der Extraklasse vorbei:
Die Tracht als Ausdruck des Schönen und der Selbstdarstellung,
die Aura der Körperhaltung und -führung sowie das Lächeln
auf dem Gesicht der Tänzerinnen versprühen einen unwiderstehlichen
Liebreiz. Schalkhafte Divertissements zu humorvollen Scherzliedern
wechseln mit Gesangseinlagen im Kocorschen Volkston, bei denen
die prachtvollen Trachten ihr zauberisches Eigenleben entfalten. Überhaupt
avanciert die Tracht mit ihren vielfältigen, je nach natürlicher
Umgebung und sozialer Lebenswelt variierenden Farbakkorden zu einem
integralen Bestandteil der künstlerischen Ausdruckseinheit,
wobei natürlich auch sorbisches Blaurotweiß nicht fehlt.
Ihre unverwechselbare Eigenart danken die Tanzbilder überdies
den vortrefflichen Bühnenkompositionen der sorbischen Meister,
die wie Alfons Janca mit seiner „Spreewaldfahrt“ Sensibilität
für das Alte mit schöpferischem Gespür für
neuere musikalische Ausdrucksformen vereinen. Bewundernswert sind
die Hingabe und ungebrochene Professionalität, mit der das
gesamte Ensemble nach einer für alle Beteiligten - von den
Künstlern bis zur Intendantin - leidvollen Saison der personellen
Neuordnung die Vorstellung zu einem einhelligen Publikumserfolg
führt.
In ihrer lebensbejahenden Sinnlichkeit sind Kubánkas Choreografien
ein willkommener Kontrast zu allen Modebestrebungen, den Bühnentanz
der Schauspiel- und Performancekunst anzunähern und damit
Macht und Magie der tänzerischen Eigenaussage zu brechen.
Aber natürlich verbringen die Sorben nicht ihr ganzes Leben
mit dem Zelebrieren ihrer Bräuche. Für die Fortexistenz
der Nation ist die lebendige Pflege der sorbischen Sprachen die
entscheidende Voraussetzung. Hier ist das SNE auch aus dem Verständnis
seiner Geschichte heraus eine Waffe gegen die Assimilation. Die
Basis aller Kultur ist die Sprache. Sollte sie untergehen, dann
würden vielleicht eines schrecklichen Tages die dann sinnlos
gewordenen, traurigen Reste sorbischen Brauchtums in den Verwertungsanstalten
der Kulturindustrie landen und die Verächter der Volkskunst
dürften sich bestätigt fühlen.
Christian Tepe
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