Nochmals: Urteil des BAG zur Abgrenzung vergütungspflichtiger
Solo-Leistungen
Über das Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG), in dem es
einen Sondervergütungsanspruch für Chormitglieder für
die Mitwirkung in den Duetten und Quartetten in Mozarts „Idomeneo“ sowie
Edmund Nicks Lyrischer Suite „Leben in unserer Zeit“ verneint
hat, ist bereits berichtet worden. Da dieses Urteil, wenn es nur
vom Ergebnis her interpretiert wird, leicht zu Missverständnissen
führen kann, erfolgt an dieser Stelle eine Zusammenfassung
und Bewertung der wesentlichen Urteilsgründe.
Die primäre rechtliche Grundlage des Urteils ist nicht eine
inhaltliche Auseinandersetzung mit den streitigen Vorschriften
der §§ 71 und 79 des NV Bühne, sondern eine prozessuale
Betrachtung, und dies in zweierlei Hinsicht:
Zum Einen wird – und das ist im Prinzip unangreifbar – auf
den revisionsrechtlichen Charakter des so genannten Aufhebungsverfahrens,
also des Verfahrens der Überprüfung letztinstanzlicher
Schiedssprüche durch die staatliche Gerichtsbarkeit hingewiesen.
Das heißt, dass diese Schiedssprüche nicht in der Weise
voll umfänglich auf ihre Richtigkeit überprüft werden
können, dass die staatlichen Gerichte – egal in welcher
Instanz – eine eigene Wertung an die Stelle der schiedsgerichtlichen
setzen, sondern diese nur auf fehlerhafte Rechtsanwendung bzw.
die Verletzung von Verfahrensvorschriften überprüfen
können. Folglich hat das BAG wie schon die arbeitsgerichtlichen
Vorinstanzen keine eigenständige rechtliche Bewertung des
streitbefangenen Sachverhalts vorgenommen. Dies ist für die
Bewertung der Tragweite des Urteils von eminenter Bedeutung.
Zum Anderen sieht das BAG die staatliche Gerichtsbarkeit – und
dies ist jedenfalls im konkreten Fall aus Sicht der VdO höchst
problematisch – durch das in Artikel 5 Abs. 3 des Grundgesetzes
verankerte Grundrecht der Kunstfreiheit gebunden. Dieser Ansatz
wäre dann nachvollziehbar, wenn unmittelbar Art und Umfang
der Mitwirkung an der Erbringung einer künstlerischen Leistung
und somit die Möglichkeit des Theaters als Grundrechtsträger,
eine bestimmte künstlerische Idee umzusetzen, in Frage stünden.
Dies war in dem vorliegenden Rechtsstreit aber nicht der Fall;
die Mitwirkungspflicht der Kläger/innen ist auch von deren
Seite zu keinem Zeitpunkt unter irgendeinem Aspekt in Frage gestellt
worden. Vielmehr ging es ausschließlich um die Frage der
Vergütung künstlerischer Leistungen; diese aber liegt – jedenfalls
mit Blick auf den zahlungspflichtigen Arbeitgeber – außerhalb
des grundrechtlich geschützten Bereichs. Noch problematischer
ist es, dass das Grundrecht der Kunstfreiheit nicht etwa dem beklagten
Arbeitgeber als künstlerisch Handelndem, sondern dem Bühnenoberschiedsgericht
zugesprochen wurde.
Wie vorstehend dargestellt, beschränkt sich die inhaltliche
Betrachtung des BAG ausschließlich auf die Frage, ob das
Bühnenoberschiedsgericht (BOSchG) Normen falsch angewandt
hat. Bezüglich der in Frage stehenden auslegungsbedürftigen
sogenannten „unbestimmten Rechtsbegriffe“ wie dem der „kurzen
solistischen Gesangsleistung“ oder der „kleineren Rolle
oder Partie“ bedeutet dies, dass das schiedsrichterliche
Ermessen nur auf einen die Grenze zur Willkür überschreitenden
Fehlgebrauch überprüft worden ist; jede rational herleitbare
Wertung hingegen wird nicht in Frage gestellt.
Derart krasse Fehler hat das Bundesarbeitsgericht in der Anwendung
der §§ 71 Abs. 2 und 3 sowie 79 Abs. 2 und 3 des NV Bühne
durch das BOSchG unter bewusster Ausklammerung sowohl der allgemeinen
Theaterpraxis als auch der Tarifgeschichte nicht feststellen können.
Andererseits lässt es erkennen, dass auch die Sicht der Kläger/innen
sowie des erstinstanzlichen Bühnenschiedsgerichts, das den
Anspruch dem Grunde nach anerkannt hatte, eine fehlerfreie Subsumtion,
d. h. Bewertung des Sachverhaltes im Lichte der einschlägigen
Normen, darstellen kann. Dies führt geradezu zwangsläufig
dazu, dass dem Urteil bzw. dem Schiedsspruch im Ergebnis keine über
den Einzelfall hinausgehende Bedeutung entnommen werden kann.
Dennoch enthält das Urteil einige wichtige Aussagen, die für
die zukünftige Auslegung der §§ 71 und 79 NV Bühne
von Bedeutung sind: Nicht schon das bloße alleinige Singen führt zur Annahme
eines solistischen Heraustretens aus der Chorleistung. Damit tritt
das BAG der Argumentation entgegen, dass im Gegenschluss aus § 71
Abs. 2 lit. f) NV Bühne alleiniges Singen in einer Stimmgruppe
keine mitwirkungspflichtige Chorgesangsleistung darstellt, wenn
dies nicht auf den unvorhergesehenen Ausfall anderer Stimmgruppenmitglieder
zurückzuführen ist.
Für die Abgrenzung einer kleineren Rolle oder Partie von einer
kurzen solistischen Gesangsleistung kommt es weder allein auf den
Umfang der solistischen Leistung noch auf die szenisch-musikalische
Realisierung allein, sondern auf eine übergreifende Bewertung
sowohl quantitativer als auch qualitativer Aspekte im jeweiligen
Einzelfall an.
Die formelle Bezeichnung der zu erbringenden Leistung im Libretto,
der Partitur oder der Sekundärliteratur ist nicht ausschlaggebend,
sondern die Gesamtbewertung der Gesangsleistung im Rahmen der konkreten
Inszenierung.
Das Annehmen einer anderen Individualität gegenüber dem
Chor ist keine Voraussetzung für die Annahme einer kleineren
Rolle oder Partie.
Darauf, dass bei der durch das BOSchG vorgenommenen Wertung zwangsläufig
irgendwo eine Regelungslücke auftreten muss, nämlich
dann, wenn eine eindeutig nicht mehr kurze Sprech- oder Gesangsleistung
dennoch keine kleinere Rolle oder Partie darstellt, geht das BAG
leider nicht abschließend ein. Hier besteht nach wie vor
dringender tarifvertraglicher Regelungsbedarf – und zwar
auch aus Arbeitgebersicht, denn hier stünde dann auch die
Mitwirkungspflicht unmittelbar in Frage. Es ist zu wünschen,
dass sich die Tarifparteien dieser Aufgabe stellen, denn dies würde
zu mehr Rechtsfrieden, mehr Rechtssicherheit und einer sachgerechteren
Lösung führen als die anderenfalls zu erwartende Flut
schiedsgerichtlicher Verfahren zur Konkretisierung der (allzu vielen)
durch das Urteil offen gelassenen Fragen. |