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Portrait

Ein Fundament für die Liebe zur Musik

Ein Porträt des Kinderchors Leipzig · Von Barbara Lieberwirth

Kinder üben auf der Opernbühne eine bezaubernde Wirkung auf das Publikum aus. Ob sie solistisch oder im Chor auftreten, immer markieren Jugend- und Kinderstimmen Glanzpunkte einer Opernaufführung. Die meisten Musiktheater verfügen heute über einen Kinderchor, sei es in Zusammenarbeit mit städtischen und schulischen Kinderchören oder bestenfalls als eigenes Ensemble. Meist kommt der Kinderchor in Repertoirestücken zum Einsatz, zum Beispiel in „Hänsel und Gretel“, in „Boris Godunow“, in „Tosca“ oder „Carmen“. An der Oper Leipzig hat der Kinderchor jedoch weitaus mehr Aufgaben zu bewältigen.

Regelmäßig Eigenproduktionen

 
Wie in allen Inszenierungen ist auch in „Alkestis“ die Schauspielkunst der Kinder gefragt. Fotos: Andreas Birkigt
 

Wie in allen Inszenierungen ist auch in „Alkestis“ die Schauspielkunst der Kinder gefragt. Fotos: Andreas Birkigt

 

Der seit 1990 fest zum Opernhaus gehörende Chor bereichert seit seiner Gründung ein- bis zweimal jährlich den Spielplan mit Eigenproduktionen. Kinder inszenieren hier für Kinder; eine Seltenheit in der deutschen Musiktheaterszene. Bereits die erste Leiterin des Chores, Anne-Kristin Mai, erkannte das Potenzial der Kinder. Mit der Angliederung des Kinderchores der städtischen Singschule an das Opernhaus begab sich Mai auf ein gut vorbereitetes Feld. Da die meisten Opernaufführungen nicht mehr als 40 Kinder beanspruchen und sie jedem der jungen Sänger das fortwährende Studium einer Rolle mit anschließender öffentlicher Darbietung ermöglichen wollte, gründete sie 1991 die Reihe „Zu Gast beim Kinderchor der Oper Leipzig“. In Zusammenarbeit mit der Leipziger Hochschule für Musik und Theater, der Leipziger Musikschule und der heute nicht mehr existierenden Ballettschule kamen so bis zum Ausscheiden von Anne-Kristin Mai im Jahr 2002 17 Produktionen auf die Bühne.

2005 übernahm nach einer Interimszeit die Dirigentin und Pädagogin Sophie Bauer die Leitung des Kinderchores. Ihr ist eine enorme Aufbauarbeit zu verdanken, übernahm sie doch einen Chor, der innerhalb von 3 Jahren auf 20 Mitglieder geschrumpft war. Das Ensemble umfasst heute 180 junge Sänger, die sich in 5 Altersstufen aufteilen; von den 4- bis 5-jährigen „Opernmäusen“ bis hin zum Jugendchor. Ab der zweiten Klasse erhalten die Kinder auch Tanzunterricht, eine wichtige Voraussetzung für den Einsatz im abendlichen Opernbetrieb. Bauer setzt die Tradition der Eigenproduktionen ihrer ehemaligen Lehrerin Anne-Kristin Mai fort. Vor knapp einem Jahr feierte das Kinder- und Jugendchorprojekt „Monsieur Mathieu, was wird?“ an der Oper Leipzig Premiere, anschließend wurde es mit dem „junge ohren preis“ des „netzwerks junge ohren“ ausgezeichnet.

 
Preisgekrönte Kreation: „Monsieur Mathieu, was wird?“. Fotos: Andreas Birkigt
 

Preisgekrönte Kreation: „Monsieur Mathieu, was wird?“. Fotos: Andreas Birkigt

 

Die jüngste Produktion, das musikalische Abenteuer „Was wäre wenn...“ hatte im März Premiere. Auf das Stück haben sich die Kinder ein Jahr lang intensiv vorbereitet. Ausgangspunkt für die Konzeption waren die Überlegungen der beiden Initiatoren Anett Seidel und Stefan Ebeling, wie Kinder in unserer leistungsorientierten Gesellschaft mit den Sorgen des Alltags, mit Stress und mit oft von Erwachsenen vorgegebenen Rastern umgehen können. Inspiriert von Jean Liedloffs ethnologischer Reportage „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ haben die beiden Regisseure den Chorkindern folgende Frage gestellt: „Was wäre, wenn ihr morgen aufwacht und alles um euch herum hätte sich verändert?“ Freilich regt solch eine fiktive Situation die Phantasie der Kinder an und es kamen die vielfältigsten Folgefragen zu „Was wäre, wenn...“: „... ich eines Tages ganz allein auf der Welt wäre?“, „... meine beste Freundin nicht existieren würde?“, „... mich eines Tages niemand mehr versteht?“, „... es keine vier Jahreszeiten mehr gäbe?“, „... es weder Raum noch Zeit gäbe?“ oder auch „... ich eine Verwandte von Marilyn Monroe wäre?“ und „... man auf dem Saturn leben könnte?“. Viele Fragen bedeuten viele Antworten, die es im Rahmen einer Handlung in Szene zu setzen galt.

Eine Geschichte musste erfunden werden: Mathilda (Anna Milena Merrem), ein Mädchen unserer Zeit, wird während eines Familienurlaubs in den Tiefen unerforschter Urwälder durch ein tragisches Unglück zur Vollwaise und findet sich plötzlich in einer fremden Welt wieder. Nichts ist hier vergleichbar mit der gewohnten Umgebung des Mädchens. Mitten im Dschungel trifft sie auf Menschen, deren Sprache sie nicht versteht und es ist ihr fremd, dass diese Menschen in einer Welt leben, in der Harmonie und Natur den Lebensrhythmus bestimmen. Jagen und Fischen sichern den Lebensunterhalt. Die Kinder spielen mit Dingen, die sie vom Wald geschenkt bekommen. Hier gibt es keinen Streit, keine sozialen Unterschiede, keine Medien, keine technischen „Errungenschaften“. Zwei Jahre lang soll Mathilda hier leben und Teil der Dschungelgemeinschaft werden. Sie findet Freunde, das Mädchen Samahiisa (Lula Plankl) und den Jungen Yamori (Emilian Tsu-baki). Als eines Tages ein Jagdunfall passiert, gerät die heile Welt aus den Fugen. Um Yamoris schwere Verletzung zu behandeln, müssen die drei Freunde den Dschungel verlassen. In Richtung Stadt, zurück in Mathildas Welt.

 
„Was wäre wenn...“: Szenenfotos von Ralf Hentrich
 

„Was wäre wenn...“: Szenenfotos von Ralf Hentrich

 

Hier ergeht es den Dschungelkindern ebenso wie anfänglich Mathilda in den Tiefen des Urwaldes. Alles ist anders und ungewohnt. Yamori wird operiert, die drei Freunde werden in der Familie von Mathildas Tante aufgenommen, hier starten sie in das überorganisierte Alltagsleben einer modernen Gesellschaft. Mit all ihren Vor- und Nachteilen. Am Ende entscheiden sich Mathilda und Samahiisa, zurück in den Wald zu gehen. Yamori hingegen bleibt in der neuen Welt.

Kostüm-Phantasien

Der Anteil des Kinderchores an der Entwicklung und Umsetzung dieser Geschichte war erheblich. Die jungen Sänger brachten Texte ein und entwarfen gemeinsam mit dem Modeatelier Baldauf & Lenk die vielfältigsten Kostüme. Dominierten bei den Dschungelkindern bescheidene erdfarbene Kostüme, so waren der Kreativität beim Entwerfen der Stadtkinder-Kostüme keine Grenzen gesetzt. Alles konnte verarbeitet werden, um die Ideen der Kinder zu verwirklichen. Jede Szene wurde durch Kostümgestaltung akzentuiert. Auch die einfallsreiche Choreografie war von besonderer Bedeutung, da das Stück ohne Bühnenbild auskommen musste. Alle Gegenstände, vom Baumstamm bis zur Hochhaussilhouette wurden choreografisch durch die Kinder dargestellt.

 
„Was wäre wenn...“: Szenenfotos von Ralf Hentrich
 

„Was wäre wenn...“: Szenenfotos von Ralf Hentrich

 

Die künstlerische Gesamtleitung lag in den Händen von Sophie Bauer. Gemeinsam mit ihr lernten die Kinder die Chormusik der englischen Renaissance kennen. Lieder wie „Greensleeves“ und Chorsätze von John Dowland, John Bennett und Thomas Morley charakterisierten die Dschungelwelt. Und die Lieder der Stadtwelt? Aus dem iPod dröhnt „I feel good“ von James Brown, Lady Gagas „Pokerface“ stampft in der Disko, „Guantanamera“ erklingt als wohlgefällige Kaufhausmusik. Selbstverständlich wurden hier nicht die Originale eingespielt, der Kinderchor interpretierte Arrangements von Chris-toph Göbel. Den Rhythmus der Stadt haben die Kinder zusammen mit Maria Hinze in spezielle Rhythmuscollagen übertragen und auch hier wurden voller Körpereinsatz und Konzentration verlangt.

Insgesamt viermal wurde „Was wäre wenn...“ aufgeführt. Das Publikum, größtenteils Schüler, honorierte jede ausverkaufte Vorstellung mit viel Applaus und nicht selten gingen die Kinder mit neuen Fragen aus der Vorstellung heraus. Eine Ruhepause wurde dem Kinderchor der Oper Leipzig danach nicht gegönnt. Die Proben zur Märchenoper „Die arabische Prinzessin oder Das wiedergeschenkte Leben“ nach Musik von Juan Crisostómo de Arriaga haben gleich nach „Was wäre wenn...“ begonnen. Das Stück, ursprünglich als erstes Opernprojekt der Barenboim-Said Foundation im September 2009 in Ramallah aufgeführt, vereinigte dort palästinensische und israelische Kinder in einem schöpfe­rischen Prozess. Zur europäischen Erstaufführung am 20. Mai sind 100 Kinder und Jugendliche des Kinderchores der Oper Leipzig und Schüler der Freien Grundschule „Clara Schumann“ auf der großen Bühne zu erleben. Und wenige Tage später stehen die kleinen Sänger wieder als Chor der Kindersoldaten in Paul Dessaus und Bertolt Brechts „Deutschem Miserere“ vor dem Publikum der Leipziger Oper (s. auch Pressespiegel, S. 20). Welch ein Wechselbad! Das ist Theater und gleichzeitig Schule fürs Leben.

Barbara Lieberwirth

 

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