Mit Modest Mussorgskis „Chowanschtschina“ hat Hausregisseurin Andrea Moses zu ihrem Abschied vom Anhaltischen Theater ein Gesellschaftspanorama inszeniert, das seine heutigen Konflikte vor dem Hintergrund des 17. Jahrhunderts verhandelt. Dabei ist ihr weniger der Einzelne als vielmehr die Masse wichtig: Alle privaten Konflikte legitimieren sich aus der sozialen Herkunft und Stellung der Protagonisten. Die Figuren sind Repräsentanten von Parteien, deren Haltung sie verinnerlicht haben, die Sehnsucht nach Uniformierung ist in Christian Wiehles grandioser Ausstattung ebenso unübersehbar wie die Überformung der Tradition durch den westlichen Kultur-Import. Da wirbt die Silhouette der Basilius-Kathedrale für Coca-Cola – und das russisch-orthodoxe Kreuzeszeichen lockt die Altgläubigen am Ende zum kollektiven Selbstmord. Wo aber das Volk der eigentliche Hauptdarsteller ist, schlägt im Musiktheater die Stunde der Chöre. Und hier ist der Dessauer Bühne in Kooperation mit dem Deutschen Nationaltheater Weimar ein echter Coup gelungen: Anstatt auf die bislang übliche Verstärkung durch freie Ensembles zurückzugreifen, wie sie Andrea Moses vor Ort beispielsweise in ihrem gefeierten „Lohengrin“ praktiziert hat, sind diesmal die Ensembles beider Häuser von vornherein in die Inszenierung eingebunden gewesen – was heißt, dass der Dessauer Chor bei der Übernahme des Stückes zum Gegenbesuch in Weimar antreten wird. Vorerst aber bekämpft er die Moskowiter aus der Goethe-Stadt in der Rolle der Strelitzen, die von gedemütigten Bojaren zum Aufstand gegen die zaristische Macht getrieben werden – ein exotischer Stoff, dem die Regie dennoch Spannung abgewinnt. Die direkte Konfrontation der Chöre, die sich anfangs auf Bühne und Rang gegenüberstehen, ehe sie am Ende gemeinsam in den Freitod ziehen, hat auch organisatorische Gründe: Die logistische Meisterleistung, für die der Dessauer Generalintendant André Bücker nach der Premiere auch die Künstlerischen Betriebsbüros belobigt, war nur durch die effiziente Probenplanung möglich. So erzählt der Weimarer Chordirektor Markus Oppeneiger, dass sich seine Künstler bereits im Bus eingesungen hätten, um in Dessau vorbereitet anzukommen. Und sein Dessauer Kollege Helmut Sonne ergänzt, dass die Gastgeber die freie Zeit mit ihren Besuchern für Haus- und Stadtbesichtigungen genutzt hätten. Sogar die Fahrräder hätten die Weimarer im Gepäck gehabt .? Auf der Bühne freilich hört und sieht man das grandios gesungene und gespielte Ergebnis einer harten Arbeit: Gerade weil Andrea Moses die Sehnsucht nach dem Gleichschritt zum Thema macht, wird die individuelle Leistung innerhalb der Chöre umso deutlicher. Da ist keine Figur, der nicht Handlung und Haltung gegeben wäre, da ist – etwa im erschreckenden Durcheinander des Auftakts oder im ironischen Bacchanal der Vorstadt-Bewohner – eine verwirrende und zugleich sinnstiftende Vielfalt zu beobachten. Dafür, dass auch bei der insgesamt überzeugenden und zu größten Teilen aus dem eigenen Ensemble besetzten Solisten-Riege die musikalische Qualität gewahrt bleibt, sorgt der Dessauer Generalmusikdirektor Antony Hermus. Als 360-Grad-Dirigent hält er im Graben den Kontakt zu Bühne und Rang, aber auch zu den Parkettseiten, an denen sich am Ende der Zug der Todgeweihten formiert – nun nicht mehr nach Herkunft, sondern nach Geschlecht getrennt. Und spätestens da dürfte auch dem Letzten klar sein, dass dieses kulturpolitisch oft geforderte, aber strukturell riskante Experiment gelingen kann, wenn sich gleichwertige Partner auf Augenhöhe begegnen. Zugleich aber wird deutlich, wie unverzichtbar die jeweils eigene Herkunft und Ausformung der Ensembles ist – denn nur so lässt sich ein solches Gipfeltreffen arrangieren. (s. auch „VdO-aktuell“, S. 28) Andreas Hillger
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