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Konzepte der Tanzkultur
Margrit Bischof und Claudia Rosiny (Hg.), Konzepte der Tanzkultur – Wissen
und Wege der Tanzforschung, transcript Verlag, 230 Seiten, 24,
80 Euro Noch jede Kunst hat zu Reflexion und wissenschaftlicher Durchdringung
gereizt – Ballett jedoch eher nur zu ästhetischer Betrachtung
und his-torischer Aufarbeitung. Erst als „die Kunst der Bewegung“ in
freie, auch grenzüberschreitende Formen ausbrach, wurde sie
zum begehrten Objekt von Theorie und Wissenschaft. Die Tanzwissenschaft,
zunächst lediglich schwächliches Anhängsel der Theaterwissenschaft,
ist dabei, sich als starkes akademisches Fach an den Universitäten
durchzusetzen, wodurch auch das begleitende Schrifttum einen sichtbaren
Aufschwung nimmt. Im Zusammenhang mit dem Nachdiplomstudiengang „Tanzkultur“ der
Universität Bern haben Margrit Bischof und Claudia Rosiny
jetzt „Konzepte der Tanzkultur – Wissen und Wege der
Tanzforschung“ in der Reihe „Tanz Scripte“ herausgegeben:
Der freie Tanz wird hier in 14 Essays, entsprechend seiner vielfachen
Ausrichtung und seiner immer intensiveren Grenzgang-Neigung, beleuchtet.
Christoph Wulf, in der Anthropologie zu Hause, sieht im Tanz
unter anderem eine körperlich-emotionale Ausübung, die Ordnung
und Regelhaftigkeit herausbildet, auch Gemeinschaft fördert.
Für ihn bedeuten die „Praktiken des ‚immateriellen‘ – nicht
in Monumenten festgehaltenen – kulturellen Erbes und insbesondere
die Tänze Möglichkeiten, sich gegenüber dem Fremden
zu öffnen und Erfahrungen im Umgang mit kultureller Vielfalt
zu machen“.
Tanzwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter erklärt in ihrem
Essay „Tanz Zeigen“ sehr klar die Entwicklung verschiedener
Performanceformen, von der Forschungs-Performance eines Xavier
LeRoy bis zur Lecture-Performance eines Jerôme Bel. Ersterer
kombiniert seinen eigenen Werdegang als Mikrobiologe mit den von
ihm spät gelernten Tanz-Trainingselementen. Der andere strukturiert/inszeniert
die Lebensgeschichte eines Tänzers und lässt ihn abwechselnd
Tanz-Szenen vorführen. Diese Mischform von „Sagen und
Zeigen“ hat sich ja auch erfolgreich als Performance-Genre
etabliert.
Die Sport- und Tanzsoziologin Gabriele Klein bringt in ihrem
Beitrag „Tanz
als Aufführung des Sozialen“ bekannte Choreografie-Beispiele,
an denen sich soziale und Geschlechterordnungen ablesen lassen:
die aus Standesgründen scheiternde Liebe zwischen dem einfachen
Mädchen „Giselle“ und dem Adeligen Albrecht steht
mittelbar für die bürgerliche Konvention im 19. Jahrhundert;
Sasha Waltz‘ „Allee der Kosmonauten“ sind getanzte
Bilder zum Plattenbau-Lebensstil im 20. Jahrhundert. Klein, die
den wechselseitigen Bezug von Tanz und Gesellschaft durch die Jahrhunderte
verfolgt, macht diesen Bezug besonders klar für den Absolutismus
unter Louis XIV. Dem Tanz sei damals eine symbolische, gesellschaftsregulierende
und machtdemonstrative Funktion zugekommen: „Die (...) Choreografien
waren so aufgebaut, dass die mittanzenden Höflinge den ihnen
zugewiesenen sozialen Status am Hofe über ihre Rolle in den
Balletten erfuhren und im Tanz einer höfischen Öffentlichkeit
demonstrierten.“
Zu diesen anthropologischen und kultursoziologischen Betrachtungen
gesellen sich Beiträge, die bildungstheoretische, ästhetische
und methodische Zugänge zum Tanz erhellen. Das Buch deckt
so gut wie alle tanztheoretischen Fragen und Phänomene ab,
vom tanzenden Körper als kulturellem Gedächtnis, als
lebendem Archiv (Gerald Sigmund), bis zu Tanz-konservierenden Materialien
(Jeschke/Vettermann); von der Tanzpädagogik bis zu Produktionsbedingungen
und Marktmechanismen. Ein kompaktes, wissenschaftlich nützliches
Buch!
Eine kritische Anmerkung dennoch: Nach tanzwissenschaftlicher
Manier wird, bei den einen Autoren mehr, bei den anderen weniger,
Selbstverständliches
bis in seine atomaren Teile zerlegt. Akademische Verfahrensweisen – gewiss.
Aber sind sie wirklich nötig? Und beraubt sich die „Akademia“ nicht
eines breiten Lese-Publikums, das sehr wohl an Tanz interessiert
ist, aber wenig Lust hat, sich mit verwissenschaftlichtem Insidervokabular
herumzuquälen (Alterität, Materialität, Kulturalität,
Performativität…). Beispiel bei Gabriele Brandstetter,
Seite 51: „Aus der Thematisierung dieser Parallelisierung
und Verschränkung von Diskurs und Körper-Performance
präpariert er (Xavier LeRoy) freilich noch eine Pointe des
Zeigens heraus, die über die Einbeziehung und Ausstellung
des Subjektiven im Vortrag hinausweist.“. Muss Wissenschaft
und gerade die der doch sinnlichen Tanzkunst dermaßen dröge
sein? Das Traurige an diesem seminaristischen Nominalstil ist,
dass er sich von Generation zu Generation vererbt. Denn nichts
machen junge Menschen selbstverständlicher, als ihre Lehrer
nachzuahmen. Malve Gradinger
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