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Brechung und Parodie
„Der Vetter aus Dingsda“ in Bremen · Von Ute Schalz-Laurenze Der Dirigent Florian Ziemen, der neue „Ers-te Koordinierte
Kapellmeister“ am Bremer Theater, ist fest davon überzeugt,
dass die Operette der 1920er-Jahre etwas ganz anderes war, als
das Bild der süßlichen Operette, das sich im Nachkriegsdeutschland
entwickelt hat: zumindest etwas ganz anderes in Bezug auf Eduard
Künnekes „Der Vetter aus Dingsda“. Deshalb machten
sich der Regisseur Frank Hilbrich und Florian Ziemen für die
neue Produktion am Bremer Theater auf die Suche nach den Ursprüngen.
Was sie vor allem umsetzten, ist der Geist der Anarchie und der
Ironie. Und es wurde ein großartiger Abend, der es keine
Sekunde nötig hatte, auf billige Gags oder seichte Musik zurückzugreifen.
Ziemen hatte für seine erste eigene Bremer Produktion das
Manuskript des Komponisten eingesehen und danach eine vielseitige,
scharfe, komische, immer gut sitzende Musik entwickelt, die mehr
mit Musical und Kabarett zu tun hat – in einer sozusagen
historischen Aufführungspraxis in der Tradition eines Jacques
Offenbach. Zudem saß das Orchester – die Frauen auch
als Männer mit Schnurrbärten verkleidet – auf der
Bühne, die Musiker waren samt ihrem Dirigenten dramaturgischer
Bestandteil der Szene. „Spielt doch!“, hieß es
häufiger, wenn es auf der Szene stockte.
Und das tat es öfter mal in der verworrenen Geschichte um
Joseph und Wilhelmine Kuhbrot, die alten Leute, die das Erbe der
reichen Julia verwalten und verprassen. Julia wartet auf Roderich,
der vor sieben Jahren ausgewandert ist. Er kommt anonym zurück
und nun entwickelt sich ein Feuerwerk von Verwechslungen und präzisen
Blicken auf die neue Bürgerlichkeit und Spießigkeit
der jungen Leute, während die eigentlichen Anarchisten die
Alten sind: unverbesserliche Achtundsechziger, Karsten Küsters
mit langen Haaren und riesigem Bauch – und einem enormen
Mut zu widerlicher Hässlichkeit – und Eva Gilhofer meist
mit Rotweinflasche und in tunikaartigen Gewändern. Es ist
ein ganz eigenes Erlebnis, wie diese beiden die starken und immer
präsenten Hintergrundsäulen der Story sind als die „Verwandten,
die man lieber nur von hinten sieht“.
Steffi Lehmann als zauberhaft intelligente Julia, Marysol Schalit
schnell und aktiv als ihre Freundin Hannchen, Alen Hodzovic als
verführerischer erster Fremder, Nicky Wuchinger als glatt-schöner
zweiter Fremder, Christian Andreas Engelhardt als böser und
rachsüchtiger Egon von Wildenhagen: ein junges Team, in dem
Opernsänger mit Chanson- und Musicalsängern gemischt
werden: Genau das bekommt dem Stück bestens. Der Stil der
Inszenierung provoziert die reichhaltigen Lacheffekte nicht auf
der Ebene von mehr oder weniger guten Witzen, sondern auf der Ebene
der Brechung und der Parodie. Ob die Sehnsucht nach Batavia, wo
Roderich herkommt, sich in Baströckchen und japanischen Schirmchen
zeigt, ob die beiden im Liebesduett immer wieder zu Standbildern
erstarren, ob so schnulzige Dinge wie „die Stimme des Herzens
ist mehr wert als leblose Ideale“ als Zitate von unbeschreiblicher
Komik rüberkommen: Dem Bremer Frank Hilbrich gelingt mit der
unverzichtbaren Choreografie von Jacqueline Davenport ein ganz
großer Wurf, den man mit dem oft gehörten „Ach,
Operette ist nicht so mein Ding“ keineswegs abtun kann.
Ute Schalz-Laurenze
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