
Wie aufgeschreckte Hamster
Calixto Bieitos „Fidelio“ in München · Von
Christian Kröber Es waren dann doch viel weniger Buhs, als die sensationslüsterne Öffentlichkeit
erwartet hatte, bei dieser ersten Arbeit des katalanischen Skandalregisseurs
an der Bayerischen Staatsoper. Und sie galten vor allem dem Dirigenten.
Um es vorwegzunehmen: Der Abend in München erfüllte die
Erwartungen in keiner Weise. Weder kamen diejenigen auf ihre Kosten,
die den Theaterskandal zum Lackmustest für die Lebendigkeit
der Oper erheben, noch die Liebhaber gro-ßen musikalischen
Opernglücks. Über weite Strecken herrschte pure Langeweile
und Sänger, Dirigent und Orchester befanden sich bis auf wenige,
allerdings herausragende Ausnahmen auf dem Niveau einer anständigen
Provinzbühne.
Beethovens einzige Oper Fidelio hat eine lange und komplizierte
Entstehungsgeschichte. Die erste Fassung, in dreiaktiger Form,
erlebte ihre Uraufführung am 20. November 1805, die zweite,
aus zwei Akten bestehend, wurde am 29. März 1806 zum ersten
Mal gespielt. Im Frühjahr 1814 komponierte Beethoven große
Stücke neu, ebenso die Ouvertüre in E-Dur. Seit Otto
Nicolais Wiener Aufführung (1841) wurde die dritte Leonoren-Ouvertüre
häufig vor dem zweiten Akt gespielt; bis Gustav Mahler sie
am 7. Oktober 1904 vor das Schlussbild platzierte.
Mit dieser Tradition bricht nun das Münchner Team. Zu Beginn
erklingt die dritte Leonoren-Ouvertüre und an ihrer Stelle
hat man eine gekürzte Version des „Molto adagio“ aus
Beethovens Streichquartett op. 132 eingefügt. Man spielt auf
der Basis der Fassung von 1814 mit eingefügten Texten von
Jorge Luis Borges und Cormac McCarthy. So weit, so schön.
Was aber macht Bieito aus dieser berühmten deutschen Freiheits-
und Eheoper? Deutet er Beethoven intellektuell phantasievoll? Oder
wird die angebotene Lösung dem Stück nicht gerecht, weil
sie bloß eine bunt glitzernde Fassade liefert, wie Reinhard
J. Brembeck in seinem bemerkenswerten Artikel über zeitgenössisches
Regietheater kritisch anmerkt?
Bieitos Konzept ist schlüssig. Das Eingeschlossensein der
handelnden Personen ist für ihn nicht so sehr ein Problem
der politischen Unterdrückung. Die Welt, wie er sie sieht,
ist eine hermetische. Überzeugend realisiert dies das Bühnenbild
von Rebecca Ringst, wenn sie die Beteiligten in einem überdimensionalen
Stahlkorsett agieren lässt, durch dessen leuchtende Gänge
sie wie aufgeschreckte Hamster irren. Die Bedrohung kommt nicht
von außen, sie steckt bereits im Kopf.
Dieser Idee muss aber alles geopfert werden, was im Stück
auf realen Gegebenheiten basiert. Bieito entpolitisiert das Werk
und nimmt ihm die zwischenmenschliche Dimension. Er wünscht
sich eine Kammer-oper des Grauens. Auf der Strecke bleiben die
Gefühle und Motive der Beziehungspaare. Da knistert nichts
zwischen Fidelio und Marzelline; Jaquino gibt den dümmlichen
Stalker, und warum Leonore ihren gefangenen Gatten befreit, spielt
eine untergeordnete Rolle. Die Inszenierung stört nicht, aber
sie wird der großen musikdramatischen Leistung Beethovens
nicht im Ansatz gerecht.
Leider hat auch Daniele Gatti seine Schwierigkeiten mit der musikalischen
Umsetzung dieses Espressivo-Werkes. Das beginnt schon mit der vierzehnminütigen
Ouvertüre, die der Dirigent mit zu viel Rubato verniedlicht.
Auch im weiteren Verlauf des Abends bleibt es bieder. Gatti glättet,
wo schroffe Gegensätze Stellungnahmen erfordern. Bei der großen
Leonoren-Arie „Abscheulicher! Wo eilst du hin?“ schreibt
der Komponist „Allegro agitato“ vor, nimmt dies zurück
und steigert immer wieder, um die Zerrissenheit Leonores deutlich
zu machen. Das klang in München doch alles sehr brav, und
auch dem Sopran der Anja Kampe fehlte die wilde Entschlossenheit
in den anspruchsvollen Spitzenlagen. Laura Tatulescu (Marzelline)
und Jussi Myllys (Jaquino) arbeiteten sich tapfer durch ihre Partien;
Wolfgang Koch fehlte die dämonische Schwärze seines Pizarro.
Allein Franz-Josef Seligs Rocco gelang es, die vertraute Singspielatmosphäre
zart anklingen zu lassen.
Und dann das Licht im Dunkel. Jonas Kaufmann ließ Ort und
Zeit vergessen. Er stellte sich den enormen Herausforderungen seiner
Florestan-Partie und überwältigte die Zuhörer emotional
und intellektuell. Sein Verzweiflungsschrei „Gott! Welch’ Dunkel
hier!“ dauert ein unendlich langes Crescendo lang und sein
baritonal gefärbter Tenor verleiht dem gequälten Opfer
existentielle Realität.
Zu einem weiteren Lichtblick zählte wieder einmal der Chor
der Bayerischen Staatsoper, der mit Präzision und Einfühlungsvermögen
sang; positiv erwähnt seien zuletzt Dean Power (1. Gefangener)
und Tareq Nazmi (2. Gefangener), die man in Zukunft in München
gerne öfter hören möchte.
Christian Kröber
|