
Bekenntnis zum Ensembletheater
Ulrike Hessler, Intendantin der Semperoper, im Gespräch · Von
Christian Tepe Seit August 2010 lenkt Ulrike Hessler die Geschicke der Sächsischen
Staatsoper in Dresden. Erste Erfahrungen auf der Kommandobrücke
eines Opern-Supertankers hat sie in den Spielzeiten 2006/07 und
2007/08 mit der kommissarischen Leitung der Bayerischen Staatsoper
gesammelt, wo die Literaturwissenschaftlerin zuvor schon als Pressesprecherin
und Marketingchefin gewirkt hatte. Ihr aktueller Spielplan für
Dresden sieht acht szenische Neuproduktionen vor und bringt mit
einem neuen Schwerpunkt Barockoper, mit slawischem Repertoire und
zeitgenössischen Stücken wie Henzes neuester Oper „Gisela!“ viel
frischen Wind in den altehrwürdigen, noch in der Spätphase
der DDR wiedereröffneten
Semper-Bau. Mit der Intendantin sprach Christian Tepe für „Oper&Tanz“ über
ihre künstlerischen Ziele.
Oper&Tanz: Nach der politischen Osterweiterung steht die Wiederentdeckung
des slawischen Anteils der europäischen Seele immer noch aus.
Slawisches Repertoire soll nun in Ihrer Intendanz zu einer klar
erkennbaren Spielplanlinie der Sächsischen Staatsoper anwachsen.
Ein Anfang ist in dieser Saison zunächst mit „Rusalka“ und
Tschaikowskys „Iolanta“ gemacht – allerdings
in Gestalt einer Inszenierungsreprise beziehungsweise einer konzertanten
Aufführung. Welche, vielleicht auch noch eigenständigeren
Akzente, werden Sie in den kommenden Spielzeiten mit slawischen
Stücken setzen?
Beginn mit „Rusalka“
Ulrike Hessler: Da möchte
ich zuerst den Einwand erheben: Was heißt hier eine Reprise?
Wir haben in Dresden mit Stefan Herheims „Rusalka“ eine
Produktion, die in Brüssel
sechsmal gezeigt wurde und in Graz ungefähr genauso oft. Kein
Mensch in Deutschland und schon gar nicht hier in der Gegend hat überhaupt
die Chance gehabt, diese Arbeit zu sehen. Wir kommen mit einer
komplett neuen Besetzung, einem neuen Dirigenten, und der Regisseur
hat das Ganze neu erarbeitet. Also da möchte ich die Reprise
schon ganz gerne ein bisschen in den Hintergrund rücken, denn
das ist eigentlich sehr aus der Sicht eines reisenden Journalisten
geurteilt und weniger aus der Publikumsperspektive. „Rusalka“ hat
für Dresden eine besondere Bedeutung, weil es 1948 in der
schlimmsten Trümmerzeit eine sehr schöne Produktion gegeben
hat. Dies war der Grund, die Arbeit von Stefan Herheim als Erstes
zu zeigen. Aber das ist nun einmal eine Inszenierung, die im Repertoiresystem
mit täglich wechselnden Vorstellungen, so wie wir das spielen,
im Gegensatz zu dem System in Brüssel oder in Graz gar nicht
erarbeitet werden kann. So viel zu der Reprise. Nun zum Zweiten:
Auch eine Serie von konzertanten Aufführungen dient ja durchaus
dazu, Repertoire vorzustellen. Wenn Sie die Oper „Iolanta“ von
Tschaikowsky kennen, wissen Sie, dass sie kaum repertoirefähig
ist, sie war ja auch bei der Uraufführung ein riesiger Misserfolg.
Sie hat aber genügend musikalisches Potenzial, so dass eine
gut präsentierte konzertante Produktion als vollwertige Aufführung
gelten kann. Für nächstes Jahr haben wir bei einem tschechischen
Komponisten ein halbkonzertantes Stück in Auftrag gegeben
und werden zudem die Neuproduktion eines selten gespielten tschechischen
Werkes zeigen. Dresden hat bekanntlich eine spezielle geographische
Lage im Dreiländereck mit Polen und der Tschechischen Republik.
O&T: Die slawische Welt beginnt
ja bereits innerhalb der deutschen Staatsgrenzen direkt vor den
Toren Dresdens, ich denke an das sorbische
Volk und seine großen Komponisten, zum Beispiel an die Oratorien
Korla Awgust Kocors mit ihrer theaterwirksamen Dramaturgie oder
an Jurij Pilks Singspiel „Die Todesgöttin“. Ist
bei dem slawischen Repertoireschwerpunkt an Ihrem Haus auch an
eine Referenz an diese westslawische Nation in Deutschland gedacht?
Hessler: Wir prüfen das gerade und gucken, ob irgendetwas
für uns in Frage kommt, was wir hier machen können.
O&T: Ähnlich wie Ihr Kollege Dominique Meyer in Wien haben
Sie das barocke Repertoire zu einem weiteren Schwerpunkt Ihrer
Opernarbeit erklärt. Die Begeisterung für barockes Musiktheater
ist in den letzten Jahrzehnten allerorten expandiert. Wie wollen
Sie sich von diesem Barock-Hype in Dresden noch ästhetisch
absetzen?
Eigenes Barock-Profil
Hessler: Wir haben ja in der Intendanz
von Sir Peter Jonas den maßgeblich von der Bayerischen
Staatsoper ausgehenden Barock-Hype Anfang der 90er-Jahre kreiert.
Damals war nicht daran zu denken, dass die Met, die Scala
oder gar die Wiener Staatsoper je einen Händel spielen würden.
Merkwürdigerweise ist die Barockstadt Dresden, wo Sie doch
barocke Architektur finden, wo immer Sie nur hinschauen, und die
auch in der Barockzeit eine europäische Opernmetropole war,
später nie wieder mit dem Musiktheater aus dieser Epoche warm
geworden. Man muss ja nicht die ganze Opernwelt neu erfinden. Wir
werden sicherlich Ausgrabungen darbieten wie diese Spielzeit mit
Johann Adolf Hasses „Il Tutore“. Wir werden die Linie
mit den Pasticci und Einaktern weitergehen. Aber wir schauen uns
natürlich auch das große Monteverdi- und Händel-Repertoire
an und werden neue Regisseure und Dirigenten dafür finden,
ohne einfach nur Einkäufe von irgendwo anders her zu tätigen.
Außerdem interpretiert die barocken Stücke bei uns die
Staatskapelle, was zum Beispiel auch ein großer Unterschied
ist zu dem Ansatz von Herrn Meyer in Wien, wo ja die Musiciens
du Louvre spielen. Also bei uns setzt sich tatsächlich das
gesamte Haus – Sänger, Chor und Orches-ter – mit
dem Barockrepertoire auseinander.
O&T: Für viele Städteurlauber ist der Besuch der
Semperoper ein Höhepunkt ihrer Dresden-Reise. Ohne Zweifel
ist der Tourismus eine der ökonomischen Säulen der hohen
Eigeneinnahmen der Staatsoper von 40 Prozent des Etats. Welchen
Einfluss hat dieser Faktor auf Ihre Spielplangestaltung?
Hessler: Sie müssen natürlich
bei jedem größeren
Opernhaus und bei der Semperoper speziell schon ein bisschen auf
die Kasse schauen. Wir machen eine Mischkalkulation. Was ist
künstlerisch wichtig, was ist
dramaturgisch notwendig, auch wenn es sich nicht so gut verkauft?
Aber diese Experimente sind aufzuwiegen mit den populären
Stücken. Und dann kommt noch dazu, dass man in Dresden kein
so homogenes Publikum hat wie andernorts. 50 Prozent der Besucher
kommen nicht aus Sachsen. Wer sind die auswärtigen Besucher?
Sind das Leute, die zum ersten Mal in eine Oper gehen, bloß weil
sie in Dresden sind? Oder habe ich ein extrem verwöhntes Publikum,
das zum Beispiel zu Silvester hier bei uns war – ein extrem
verwöhntes Publikum, das sich handverlesen raussucht: „Ich
möchte jetzt an diesem Tag in der Semperoper sein und nicht
in Wien, München oder Mailand.“ Das haben wir auch unterm
Jahr häufig. Da kommt es darauf an, möglichst genau das
Publikum kennen zu lernen, um das Richtige anzubieten. O&T: Aus der Ära Hasse ist bekannt, dass auch nicht-adeligen
Personen Zugang zu den Aufführungen der Hofoper gewährt
wurde. Heute haben sich die Eintrittspreise der internationalen
Opernhäuser gerade für die besten und kundigsten Opernfreunde
zu einer neuen Klassenschranke entwickelt. Was können Sie
in Dresden der Wohnbevölkerung anbieten, also Menschen, die
zum Beispiel mit einem Nettogehalt von 1.200 Euro auskommen müssen?
Hessler: Durch die Architektur
dieser Opernhäuser bekommen
Sie immer günstige Plätze. Das ist natürlich nicht
vorne im Parkett. Ich habe zum Beispiel mein ganzes Opernrepertoire
auf den Stehplätzen der großen Opernhäuser in
dieser Welt erstanden und habe nicht darunter gelitten. Wir haben
aber, um den Dresdnern speziell entgegenzukommen, die sogenannten
Dresden-Tage eingeführt, die auch jede zweite Vorstellung
nach einer Premiere beinhalten. Da setzen wir den niedrigsten Preis
an und machen gestaffelt noch einmal 50 Prozent Abschlag. Ich halte
allerdings nichts davon, Karten zum Einheitspreis zu verschleudern.
Der Preis kann also eigentlich kein Hinderungsgrund sein, die Semperoper
zu besuchen.
O&T: Musiktheater für junge Menschen ist in den letzten
Jahrzehnten zu einem institutionalisierten Bestandteil vieler Häuser
geworden. Nun haben Sie auch in Dresden eine neue, vierte Sparte „Junge
Szene“ eingerichtet. Wofür steht die „Junge Szene“ und
wie ist sie personell ausgestattet? Oper für Jung und Alt
Hessler: Wir alle brauchen Nachwuchs im Publikum
und in den kreativen Berufen. Wir können nicht mehr erwarten, dass das von den
Elternhäusern und Schulen geliefert wird, also müssen
wir mehr Vermittlungsarbeit leisten. Wir müssen kommunizieren,
was musikalisches Theater überhaupt bedeutet – zunächst
mal, indem man den jungen Leuten die Möglichkeit gibt, gut
vorbereitet die Vorstellungen im Großen Haus zu besuchen.
Aber Oper ist natürlich in einem Institut wie der Semperoper
doch schon eine sehr große Sache. Es könnte gut sein,
dass es für manche jungen Leute besser ist, einfach etwas
näher dran zu sein. Darum haben wir kleine, besondere Werke
ausgesucht, die für gewisse Altersgruppen gut infrage kommen.
Wobei wir immer sagen: Wenn ein Stück wie „Der gestiefelte
Kater“ von César Cui für Menschen ab sechs Jahren
geeignet ist, dann kann man natürlich mit 86 Jahren da genauso
hineingehen und seine Freude daran haben. Personell ausgestattet
sind wir mit einem künstlerischen Leiter und neben einer bereits
vorhandenen Stelle mit einer zusätzlichen, durch Umwidmung
geschaffenen Stelle für Theaterpädagogik sowie mit einigen
studentischen Hilfskräften.
O&T: Mit der Saison 2012/13 übernimmt Chris-tian Thielemann
die Leitung der Sächsischen Staatskapelle. Wie stark wird
Herr Thielemann als Operndirigent im Haus präsent sein?
Hessler: Die Tätigkeit von Herrn Thielemann in Dresden wird
sich in drei Teile teilen, die ziemlich gleich dimensioniert sind:
ein Drittel Oper, ein Drittel Konzerte in Dresden und ein Drittel
Konzerte auf Tour.
O&T: Unlängst ist Hans-Joachim Frey in Bremen mit seinem
Versuch, einen Semi-Stagione-Betrieb zu etablieren, gescheitert.
Welchen Wert hat für Sie denn das Ensembleprinzip?
Hessler: Unsere Arbeit hier ist ein ganz klares Bekenntnis
zum altmodisch deutschen Repertoire- und Ensembletheater. Wir
haben
das sowieso schon sehr gute Ensemble der Semperoper aufgestockt.
Und wir werden uns auch weiter in der ganzen Welt durch Vorsingen
und Vorstellungsbesuche orientieren, um Dresden zu einem Sprungbrett
für die großen neuen Sänger zu machen, die langsam
und behutsam in die großen Rollen wachsen.
O&T: Sie haben auf einer
Pressekonferenz geäußert,
dass weibliche Titelheldinnen im Zentrum Ihrer ersten Dresdner
Saison stehen. Das ist auf den zweiten Blick nicht so verwunderlich,
ist es doch schier unmöglich, einen Opernspielplan ohne starke
Frauen zu entwerfen.
Hessler: Das war einfach eine etwas ironische Reaktion auf
die erste Frage, die mir seit meiner Vorstellung ständig gestellt
wurde: „Und wie fühlen Sie sich als erste Frau in einer
solchen Position an diesem Haus?“ Da ich mich irgendwie in
etwas mehr als 50 Jahren daran gewöhnt habe, eine Frau zu
sein, finde ich das nicht so außergewöhnlich, ehrlich
gesagt.
O&T: Herzlichen Dank für das Gespräch.
Christian Tepe |