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Stimm-Begabungen
Knabenchorkultur in den deutschsprachigen Ländern · Von
Ronny Krippner
Es ist einem vielleicht nicht immer bewusst, wie einzigartig
die Knabenchortradition in Deutschland und Österreich ist. Was
macht diese Chöre besonders, was ist das definierende Charakteristikum
dieser Chöre im Gegensatz zu denen im Ausland? Seit drei Jahren
bin ich in der glücklichen Position, mit Knabenchören
an Britischen Kathedralen arbeiten zu dürfen und vergleiche
dabei mit den Knabenchören daheim in „Good Old Germany“.
Der deutsche Knabenchor hat in der Regel eine Größe
von durchschnittlich 70 Sängern (Thomaner, Kruzianer, Domspatzen
und so weiter). Derart große Knabenchöre wird man in
Großbritannien vergeblich suchen – dort bestehen die
Knabenchöre aus circa 20 Jungen, der Rest des Chores sind
wenige, allerdings professionelle Männerstimmen. Da die deutschen
Chöre den Tenor und Bass mit sehr jungen Herrenstimmen besetzen,
wird ein Höchstmaß an perfekter Klangmischung erreicht,
da Ober- und Unterstimmen altersmäßig nicht weit auseinanderliegen.
Das Ergebnis ist ein strahlender, dennoch leichter und sehr homogener
Chorklang. In den vergangenen Jahren ist der Leistungsdruck auf die Knabenchöre
gewaltig angestiegen: der durch bestechende CD-Qualität verwöhnte
Hörer erwartet eine immer bessere „Performance“ der
Chöre, sei es im Konzert oder bei der Aufnahme. Dafür
braucht man erfahrene Knabenstimmen. Leider setzt der Stimmbruch
tendenziell immer früher ein, so dass es heute keine Seltenheit
ist wenn Jungen bereits im Alter von 13 Jahren mutieren. Die Lösung
ist simpel: das Training muss früher beginnen! Jeder der in
diesem Artikel aufgeführten Chöre hat ein ausgeklügeltes
Trainingssystem entwickelt, das in manchen Fällen bereits
im Kindergartenalter beginnt.
Der damit verbundene Mehraufwand (mehr Chorleiter, mehr Übungsräume)
sowie der Unterhalt aller bisherigen Leistungen verschlingen riesige
Geldmengen. Um einem finanziellen Fiasko vorzubeugen, wurden innerhalb
der letzten zehn Jahre Fördervereine und Stiftungen ins Leben
gerufen. In vereinzelten Fällen sind ortsansässige Firmen
permanente Sponsoren der Chöre. Leipziger Thomanerchor Der Thomanerchor in Leipzig ist mit dem Namen Johann Sebastian
Bach auf das Engste verbunden – wer von dem einen spricht,
hat den anderen gleichzeitig im Kopf. Somit ist es auch keine sonderliche Überraschung,
wenn die Thomaner sich in erster Linie der Pflege des Bachschen
Vokalwerkes widmen. Die Anfänge des Chores liegen in der vorreformatorischen
Zeit, als im Jahre 1212 der Markgraf von Meißen die Gründung
des Augustiner Chorherrenstiftes zu Sankt Thomas veranlasste. Als
Leipzig 1539 evangelisch wurde, übernahm die Stadt Leipzig
die Trägerschaft des Chores – und hat diese auch heute
noch inne. Während Bachs Amtszeit sangen im Thomanerchor gerade
einmal 16 singfähige Knaben, was dem berühmten Kantor
viel Kopfzerbrechen und einiges an organisatorischem Geschick abverlangte.
Wie gerne hätte er wohl da mit seinem 16. Nachfolger Georg
Christoph Biller getauscht, dem heute ein leistungsstarker Chor
von 90 bis 100 Knaben zur Verfügung steht.
Die Thomaner versehen dreimal in der Woche den liturgischen Dienst
in der Thomaskirche:immer freitags um 18 Uhr und samstags um 15
Uhr musiziert der Thomanerchor in den Motetten und singt sonntags
um 9:30 Uhr im Gottesdienst. Zusätzlich veranstalten die Thomaner
mindestens zwei große Deutschlandreisen pro Jahr, sowie Tourneen
ins Ausland (im Oktober letzten Jahres führten die Thomaner
die h-moll Messe mehrmals in Großbritannien auf). Alle Mitglieder
des Thomaschores wohnen im Alumnat („Kasten“) in der
Leipziger Hillerstrasse. Die Kinder und Jugendlichen sind in so
genannten Stuben untergebracht: in jeder Stube lebt ein älterer
Thomaner mit einigen jüngeren zusammen und kümmert sich
um die ihm anvertrauten Jungen. Dieses pädagogisch-hierarchische
System gleicht sehr dem der englischen Domchöre, wo „Head
Chorister“, „Deputy Head Chorister“ und mehrere „Senior
Choristers“ den unerfahrenen Kleinen zur Seite stehen. Seit
dem Schuljahr 1998/99 besteht die Möglichkeit, sich bereits
ab der 1. Klasse auf eine Aufnahme in den Thomanerchor vorzubereiten,
ab der 3. Klasse erfolgt der Eintritt in die Thomasschule. Wie
alle traditionsreichen deutschen Knabenchöre, so hatten auch
die Thomaner während der Nazi-Diktatur eine schwere Zeit zu überstehen.
Der Chor wurde 1937 „gleichgeschaltet“ und der HJ einverleibt.
Es ist dem unermüdlichen Streben der beiden Thomaskantoren
Karl Straube und Günther Ramin zu verdanken, dass der Chor
nicht von nationalsozialistischem Gedankengut infiltriert wurde.
Beide hatten sich zudem verstärkt dem Bach‘schen Musikerbe
zugewandt und sich damit hohe Verdienste erworben. Dresdner Kreuzchor
Wie die Thomaner, so sind auch die Kruzianer eine städtische
Institution mit weitreichenden historischen Wurzeln. Gegründet
als Lateinschule an der „capella sanctae crucis“ (Kreuzkirche),
gehören dem Dresdner Kreuzchor heute 150 Knaben im Alter von
9 bis 19 Jahren an. Die Besetzung des Chores richtet sich nach
den Erfordernissen des aufzuführenden Repertoires. Meist musiziert
der Chor als gemischter Knaben- und Männerchor, zu Gastspielen
reisen ungefähr 80 Sänger. Den Dienst an der Kreuzkirche
versehen die Kruzianer zweimal wöchentlich, samstags um 18
Uhr (Vesper) und sonntags um 9.30 Uhr (Gottesdienst). Zusätzlich
finden drei feste Tourneen pro Jahr statt (Sommer, Herbst und Winter).
So führte die Konzerttournee im Februar dieses Jahres nach
Japan und Südkorea, wo unter anderem die Matthäus-
passion in Tokio aufgeführt wurde. Die schulische Ausbildung
erfolgt am Evangelischen Kreuzgymnasium Dresden. Vom vierten bis
siebten Schuljahr werden die Kruzianer in eigenen Klassen unterrichtet,
ab der achten Jahrgangsstufe lernen sie dann in „gemischten
Klassen“ mit anderen Kreuzschülern. Nach dem Tagesunterricht
finden täglich bis zu drei Stunden Stimmgruppen-, Register-
und Gesamtproben unter der Gesamtleitung von Kreuzkantor Roderich
Kreile (seit 1997 im Amt) statt. Im Alumnat, dem Internat des Kreuzchores,
leben 90 Buben: die vierte und fünfte Klasse, sowie diejenigen,
die weiter weg wohnen. Wer Kruzianer werden will, kann schon früh
einsteigen. Ab dem zweiten Halbjahr der ersten Klasse wird zur „Singestunde“ eingeladen.
In der zweiten Klasse erwerben dann die Jungen in kleinen Gruppen
das nötige musiktheoretische Wissen. Nach bestandener Zwischenprüfung
kommen die Kinder in die Vorbereitungsklasse 3. Jeder muss am Ende
der dritten Klasse eine Aufnahmeprüfung bestehen. Regensburger
Domspatzen
Der Regensburger Domchor mit dem eigenwilligen Namen „Domspatzen“ (der
Name entstand während einer Konzertreise nach Prag zu Beginn
des 20. Jahrhunderts) ist einer der ältesten Knabenchöre
der Welt. Im Jahre 975 gründete der Regensburger Bischof Wolfgang
eine Domschule mit Schwerpunkt Gesang, um die Gottesdienste in
der Kathedrale kirchenmusikalisch gestalten zu können. Unter
der Leitung von Theobald Schrems (Domkapellmeister 1924-1963) wurde
der Chor neu organisiert, das Internat samt musischem Gymnasium
erbaut und die Konzert- und Aufnahmetätigkeit der Domspatzen
auf ein Vielfaches erhöht. Die nachfolgenden Domkapellmeister
Georg Ratzinger (1964-1994) und, seit 1994, Roland Büchner
verstanden es, mit viel Geschick das musikalische Profil des Chores
zu schärfen. Ein Novum Büchners ist die vermehrte Aufführung
oratorischer Werke wie „Der Messias“, „Die Schöpfung“ oder
die Johannespassion. Insgesamt 500 Buben besuchen Chor, Schule
und Internat der Domspatzen. Der Konzertchor und die zwei Nachwuchschöre
bestehen jeweils aus 60 Knaben- und Männerstimmen, dazu kommt
noch die Choralschola. All diese Chöre wechseln sich bei den
sonntäglichen Domdiensten ab – was der Probenarbeit
für die nächsten Konzerte/Projekte zu Gute kommt. Um
genügend Nachwuchs sicher zu stellen und um einigen Knaben
schon vor dem Eintritt in das Domgymnasium eine chorische Ausbildung
zu geben, wurde in einem Klostergebäude in Pielenhofen die
Tages- und Internatsgrundschule der Regensburger Domspatzen (erste
bis vierte Klasse) eingerichtet. Zusätzlich besteht für
Kindergartenkinder und Grundschüler aus Regensburg und Umgebung
die Möglichkeit, den „Vorchören“ der Domspatzen
beizutreten. Es handelt sich dabei um mehrere Singklassen, die
jeweils wöchentlich in den Räumen des Domspatzen-Internats
proben. Im Herbst 2005 veröffentlichten die Domspatzen ein
Album, auf dem das „Konzert für Papst Benedikt XVI“ zu
hören ist, welches der Regensburger Domchor im Beisein des
Heiligen Vaters in der Sixtinischen Kapelle gegeben hatte – und
erreichten damit Platz 5 der Klassik Charts. 2002 wurde den Domspatzen
der Titel „Kulturelle Botschafter von Europa“ verliehen. Windsbacher Knabenchor
Was die Regensburger Domspatzen für das katholische Bayern,
sind die Windsbacher für das evangelische: kirchenmusikalische
Botschafter der jeweiligen christlichen Konfession. Dabei könnte
der Unterschied der beiden Chöre kaum größer ausfallen – der
1946 gegründete Windsbacher Knabenchor wirkt im geschichtlichen
Vergleich zur 1000-jährigen Tradition der Regensburger wie
ein frisch geschlüpftes Küken. Und dennoch haben sie
sich mit harter, konsequenter Arbeit einen festen Platz im internationalen
Konzertleben gesichert – und gehören heute zu den renommiertesten
Knabenchören der Welt! Und dabei fing alles recht unscheinbar
an. Es war wohl ein ausgezeichneter Glücksfall, als nach dem
Krieg der damals 25-jährige Hans Thamm als Musikpräfekt
an das Pfarrwaisenhaus (heute Evangelisch-Lutherisches Studienheim)
im fränkischen Windsbach berufen wurde. Thamm, der selbst
als Kruzianer in Dresden unter Rudolf Mauersberger sang und studierte,
sah in Windsbach alle Voraussetzungen gegeben, um Schritt für
Schritt einen der erfolgreichsten deutschen Knabenchöre aufzubauen.
Seit 1978 steht der Chor unter der Leitung von Karl-Friedrich Behringer,
der nicht nur den ausgezeichneten Ruf des Chores festigte, sondern
durch weltweite Tourneen die Windsbacher auch international bekannt
machte. Die 110 Internats- und 30 Tagesheimschüler werden
von insgesamt 50 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen umsorgt. Eine
Besonderheit in Windsbach: es ist jeder Schultyp am Ort vorhanden
und kann von den Jungen besucht werden. Das Johann-Sebastian-Bach
Gymnasium, sowie die Grund- und Hauptschule liegen direkt neben
dem Internat; ferner besuchen Schüler die Realschulen in den
umliegenden Nachbarorten. Durch die Einrichtung von speziellen
Chorklassen und vertiefende Nacharbeit am Gymnasium wird gewährleistet,
dass die Knaben eventuelle Versäumnisse durch Chorreisen schnell
wieder aufholen. Finanziell steht der Windsbacher Knabenchor auf
mehreren Säulen, von denen die Evangelisch-Lutherische Kirche
in Bayern die umfangreichste Unterstützung einbringt. Des
Weiteren stellen die eigene Chor-Stiftung, das so genannte Patronat
(ein Zusammenschluss potenter Geldgeber in der Region Nürnberg)
und die Fördergesellschaft des Chores die übrigen Geldmittel
zur Verfügung. Neben der Pflege der a cappella Chorliteratur
bis hin zu den großen oratorischen Werken (Messias, Elias),
singen die Windsbacher regelmäßig die Motette in St.
Lorenz in Nürnberg. Im April dieses Jahres stand Bachs Matthäus-Passion
auf dem Programm, unter der Leitung von Kent Nagano. Tölzer Knabenchor
Gleich in drei bayerischen Orten sind hochkarätige Knabenchöre
ansässig: Regensburg, Windsbach und, seit 1956, in Bad Tölz.
In jenem Jahr gründete der damals 19-jährige Gerhard
Schmidt-Gaden den Knabenchor, der heute noch unter seiner Leitung
steht. In erstaunlich kurzer Zeit erwarben sich die Tölzer
nationale und internationale Anerkennung.
Heute singen 150 Buben aus München und Umgebung verteilt auf
4 Chöre, wobei der Chor – im Gegensatz zu den anderen
bereits erwähnten Knabenchören – kein Internatsbetrieb
ist. Die Ausbildung ist in vier leistungsspezifische Chorstufen
untergliedert und beginnt in der ersten Schulklasse mit dem Ausbildungschor.
Nach zweijähriger Ausbildung kommen die Chorknaben dann in
den Repertoirechor, in dem schon komplexere Chorwerke (z.B. Benjamin
Brittens Missa Brevis) erarbeitet werden. Außerdem müssen
die Buben ab diesem Zeitpunkt ein Instrument spielen. Im Alter
von 9 bis 10 Jahren werden die Knaben nach bestandener Übertrittsprüfung
in den Konzertchor aufgenommen. Hier erhalten die Jungen zwei mal
wöchentlich einen zweistündigen Chorunterricht sowie
eine Solostunde. Ein Markenzeichen des Tölzer Knabenchores
ist die Besetzung der Drei Knaben in Mozarts „Zauberflöte“.
Seit Jahrzehnten besetzen die bedeutendsten Opernhäuser und
Festspiele das Knaben-Terzett mit Tölzer Solisten. Die verschiedenen
Gruppen und Solisten des Tölzer Knabenchores treten pro Jahr
in fast 250 verschiedenen Konzerten und Opernaufführungen
auf. Der Ausbildungsbereich des Chores wird vom Tölzer Knabenchor
e.V. getragen. Wiener Sängerknaben
Der im Wiener Augarten beheimatete Knabenchor – zu dessen
ehemaligen Sängern unter anderem Franz Schubert und Peter
Alexander zählen – hat durch seine äußerst
aktive Konzerttournee-Arbeit einen hohen Bekanntheitsgrad im In-
und vor allem auch im Ausland erreicht. Gegründet im Jahre
1498 von Kaiser Maximilian I., lag die Hauptaufgabe der Hofsängerknaben
in der musikalischen Gestaltung der Heiligen Messe – eine
Tradition, wie sie heute noch beispielsweise vom Knabenchor der „Chapel
Royal“ im St. James Palast in London gepflegt wird. Die Auflösung
der k.u.k. Monarchie und damit des Kaiserlichen Hofes bedeutete
aber keineswegs das Ende des Chores: 1924 wurden die „Wiener
Sängerknaben“ offiziell als Verein gegründet, seit
1948 befindet sich das Internat des Chores im Palais im Wiener
Augarten. Markenzeichen der Wiener Sängerknaben sind die Matrosenuniformen,
die die Knaben bei Auftritten tragen. Der Grund für diese äußerst
markante Garderobe: in den 20er-Jahren war es für Kinder aus
bürgerlichen Familien durchaus üblich, derartige Marineanzüge
als „Sonntagskleidung“ zu tragen. Der damals übliche
Säbel wird heute von den Sängerknaben allerdings nicht
mehr angelegt – sehr zum Verdruss mancher Jungen!
Etwa 100 Knaben im Alter von 10 bis 14 Jahren sind in 4 Chöre
aufgeteilt; im privaten Realgymnasium erhalten die Kinder in kleinen
Gruppen ihren Schulunterricht und nehmen täglich an den zweistündigen
Chorproben teil. Daneben unterhalten die Wiener Sängerknaben
auch einen eigenen Kindergarten und eine Volksschule. Wer Sängerknabe
werden will, muss spätestens die vierte Klasse der hauseigenen
Volksschule besuchen, um dann ein Jahr später in den Chor
aufgenommen zu werden. Im Jahre 2001 trat Gerald Wirth die Nachfolge
von Norbert Balatsch (langjähriger Chordirektor der Bayreuther
Festspiele und der Wiener Staatsoper) als Künstlerischer Leiter
des Chores an. Die 4 Konzertchöre – die jeweils unter
dem Namen „Wiener Sängerknaben“ singen – geben
rund 300 Konzerte jährlich vor fast einer halben Million Zuschauern
in der ganzen Welt. Jeder der Chöre verbringt insgesamt neun
bis elf Wochen eines Schuljahres auf Tourneen im In- und Ausland.
Jedes Jahr fährt einer der Chöre in die USA, nach China,
Japan, Südkorea, sowie in verschiedene europäische Länder;
alle zwei Jahre finden Konzertreisen nach Lateinamerika, alle drei
Jahre Reisen nach Australien und Neuseeland statt. Solisten des
Chores übernehmen immer wieder Partien wie das Knabensolo
aus Bernsteins „Chichester Psalms“ oder Gustav Mahlers „Das
klagende Lied“.
Ronny Krippner
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