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Triumph der Nachwuchs-Tänzer
Die Münchner Ballettwoche · Von Malve Gradinger
Die Münchner Ballettwoche – traditionell die festliche
Summe einer ganzen Spielzeit. Darüber hinaus hatte sie diesmal
einen doppelten Signalwert: das Gastspiel des Moskauer Bolschoi-Balletts
mit Petipas „Don Quixote“ war glorioser Ausklang des
von Ballettchef Ivan Liska vergangenen Herbst ausgerufenen „Petipa-Jahres“,
während die Auftakt-Premiere mit Lucinda Childs‘ „Chamber
Symphony“ (1994 fürs Staatsballett) und Kenneth MacMillans „Das
Lied von der Erde“ (1965, jetzt Münchner Erstaufführung),
schon die nächste, wie angekündigt wieder stärker
modern orientierte Saison einläutete.
Nicht anders als das St. Petersburger Mariinsky Ballett, das hier
im März mit „Giselle“ in drei verschiedenen Besetzungen
gastierte, trumpfte auch das Bolschoi zuerst mit seinen Nachwuchsstars
auf. Und die erwiesen sich, genau wie bei den Petersburgern, als
die richtigste Besetzung: Natalia Osipova (Kitri), 23, ein Gesicht
wie Schneewittchen, zierlich wie eine Meißener Porzellanfigurine,
gestochen schnell auf Spitze, verschenkt noch in der schwierigsten
Ballett-Figur ein hinreißendes Lächeln; Ivan Vasiliev
(Basilio), erst 19 (!), ebenfalls attraktiv, federt phänomenale „grands
jetés“, blitzrapide gedrehte Luftgrätschen und
Flitz-Manegen über die Bühne, als wär‘s ein
Fingerschnippen. Solisten haben eine gewisse Freiheit, die vorgegebene
Solo-Variation persönlich zu gestalten – je nach technischem
Vermögen. Was alles dieser nicht sehr große, aber mit
Wunder-Muskeln ausgestattete Tänzer an Drehungen und Battierungen
in seine „Flugsprünge“ einbaute – das Auge
konnte es so schnell gar nicht fassen. Dass die beiden obendrein
körperlich und in ihrer Spielfreude so wunderbar harmonierten,
machte das Tanzglück voll.Gegen so viel Jugend, Charme, Frische
und atemberaubende Virtuoso-Technik – der viel gerühmte
Bolschoi-Bravoura-Stil in Reinkultur – kamen die beiden reiferen
Paare Marianna Ryzhkina und Juri Klevtsov sowie Maria Alexandrova
mit Sergey Filin, nicht an.
Mit den beiden Protagonisten jedoch steht und fällt dieses
dramaturgisch wohl immer schon etwas schwerfällige Ballett,
das seit Petipas erster, der Moskauer Version 1869 und seiner
revidierten Version 1871 immer wieder überarbeitet oder
ganz neu aufgelegt wurde. So 1900, fürs Bolschoi, von Alexander
Gorsky, der seine handlungsdramatischen Ideen umsetzte. Alexej
Fadeyechevs aktuelle Bolschoi-Fassung von 1999 soll, laut Programmheft, „originalgetreu“ auf
Petipa und Gorsky basieren. Ein hybrides Gebilde bleibt dieser „Don
Q.“ dennoch.
Vor einem allzu bunten Kitschpostenkarten-Hafen ist das ein Gewimmel
von Jungvölkchen, Straßentänzerinnen und Tücher-schwingenden
Toreros. Was bei dem noch auf zaristische Hierarchie und Geometrie
bedachten Petipa filigranes Divertissement war (enttäuschend
reizlos die Dryaden-Szene mit immerhin einem fußflinken
Cupido von Nina Kaptsova), ist nun aufs Imponieren angelegte
Massen-Szene, zu des öfteren lärmigem Minkus. Mit seinen
massigen folkloristischen Aufmärschen, seinen bühnenfüllenden
Fandangos haftet diesem „Don Q.“ noch der Monumental-Geschmack
der Sowjetzeit an. Aber die „danse de caractère“,
immer schon eine Stärke der Bolschois, wird hier in einem
ganzen Fächer von spanischen Tänzen entfaltet, mit
und ohne Kastagnetten. In Erinnerung bleibt vor allem der vom
Mariinsky übergewechselte charismatische Andrej Merkuriew,
der den Part des Stierkämpfers an den drei Abenden zu einem
tänzerischen Blickfang machte.
Nichts zum Nur-Zurücklehnen und Genießen dagegen war
der Auftakt-Zweiteiler: Denn Amerikas berühmteste Dance-Minimalistin
Childs und der legendäre Neoklassiker MacMillan (1929-92)
als Premieren-Gespann, das war Tanz kompakt und zugleich eine intensive
Geschichtsstunde. Kaum noch vorstellbar, dass 1965 MacMillans Vorschlag
zu diesem Mahler-Ballett vom Londoner Royal Ballett als „Sakrileg“ abgelehnt
wurde. Nach der gefeierten Uraufführung beim Freund John Cranko
in Stuttgart wurde das Ballett auch beim 1966 nachziehenden Royal
ein großer Erfolg. Mahlers Weltschmerz, seine feinsinnig-schwerblütige
Musik entsprachen ganz dem Einzelgänger und Melancholiker
MacMillan. Zu den sechs Liedern über Frühling, Herbst
und Abschiednehmen, inspiriert von Hans Bethges Nachdichtung altchinesischer
Lyrik, entwarf MacMillan assoziative Ensemble-Szenen um drei symbolische
Figuren: den Mann, die Frau und den Ewigen. Dieser Bote des Todes – sehr
präsent von Tigran Mikayelyan –, ein ständiger „Lebensschatten“,
führt am Ende Mann und Frau zusammen.
In dem langen Pas de deux für das Liebespaar erlebt man MacMillans
große Kunst: die hochmusikalische Einswerdung von Komposition
und Choreografie. Und bei der feingliedrigen, verinnerlichten Lucia
Lacarra stellt sich das ein, was MacMillan wohl anstrebte: eine
Entmaterialisierung seiner Tanzsprache, eine Transformation zur
Poesie des reinen Ausdrucks. Nur dieser sechste Satz, zusammen
vielleicht noch mit dem ersten und zweiten, das hätte genügt,
hätte diesen Abend kostbarer gemacht. Denn Jadebrücken,
spiegelnde Teiche, breitbeinige Reiter und torkelnde Trinker, kurz
all die halb-realistisch die Gedichttexte nachbildenden Tanzmomente
sind doch sehr den 60er-Jahren verhaftet.
Dreißig Jahre später sieht der Tanz anders aus. Bei
der postmodernen Childs sind die Frauen keine anmutigen Lotosblüten
mehr. Sie werden wohl auch in waghalsigen Hebungen von den Männern
hochgestemmt – aber nicht in Verehrung, sondern zum gemeinsamen
kühl-eleganten artistischen Akt. Selbst auf Spitze sind sie
Gleichberechtigte, durchmessen wie die männlichen Kollegen
den lichten bildnerischen Raum in hochdynamischen Schritt- und
Drehfiguren, die über Childs‘ stets bis in die Kulissen
entgrenzte Bühne flocken. Hier ist keine Zeit für große
Gefühle. Hier herrscht permanente „rush hour“.
Die Sprache der Childs und die titelgebende Musik von John Adams
ergänzen sich zur treffenden Metapher für eine eilige
urbane Gesellschaft im Fitnesswettbewerb mit sich selbst. Kompetent,
aber nicht mehr, der von Kent Nagano höchstpersönlich
empfohlene Gastdirigent Ryusuke Numajiri. Das Staatsballett war
bei der Premiere noch nicht ganz auf seinem Top-Niveau. MacMillan
und Childs, beide auf ihre Weise tanztechnisch höchst vertrackt,
sind eben erst recht für die Tänzer ein forderndes Kontrast-Programm.
Malve Gradinger
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