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Schaut her, wir sind‘s!
MDR-Sendung zur Bundesversammlung der VdO 2004
Im Jahr 2004 feierte die VdO ihren 45. Geburtstag. Kein Blick
zurück
auf die erfolgreiche Geschichte des Berufsverbands war Zentrum
der Feierlichkeiten. Vielmehr nahm der Verband das Jubiläum
zum Anlass, Ortsdelegierte aus ganz Deutschland einzuladen, um
mit ihnen über Situation, Probleme, Ideen und Zukunftsaussichten
der Opernchöre und Bühnentänzer zu diskutieren.
Das selbst gewählte Motto „Schaut her, wir sind’s!“ sollte
dabei Mut machen, das Selbstbewusstsein der Chorsänger und
Chöre zu stärken. Die circa 120 Teilnehmer der Bundesversammlung
in Halle ließen sich auf ein innovatives Kongresskonzept
ein, bei dem zu jeder Zeit ihre aktive Mitarbeit gefragt war. Zum
Abschluss der 3-tägigen Veranstaltung zeichnete der MDR eine
Podiumsdiskussion auf, die später gesendet wurde. Nach wie
vor sind die hier diskutierten Themen hochaktuell, so dass wir
Ausschnitte aus der Diskus-sion in dieser und der kommenden Ausgabe
von „Oper&Tanz“ abdrucken. Moderiert wurde die
Sendung von Bettina Volksdorf.
Bettina Volksdorf: Anlass für diese Sendung bietet die erste
Bundesversammlung der VdO, der Vereinigung deutscher Opernchöre
und Bühnentänzer. Ein Motto gibt es auch für diese
Bundesversammlung, das lautet „Schaut her, wir sind‘s“.
Ob Aufforderung oder Hilferuf, darüber wird noch zu reden
sein. Zum Beispiel mit Claudia Schäfer. Sie ist Altistin und
seit 1992 Mitglied des Opernchores des Landestheaters Coburg. Das
ist ein Drei-Sparten-Haus, und bei einer Chorstärke von insgesamt
24 Damen und Herren kann sich keiner so richtig verstecken. Frieder
Reininghaus, Publizist mit einschlägigen Erfahrungen im Hörfunk
und den Printmedien, lebt in Köln und erlebt so um die 100
Vorstellungen pro Jahr in und außerhalb Deutschlands. Matthias
Brauer ist Chordirektor an der sächsischen Staatsoper in Dresden
und last, but not least: Stefan Meuschel. Stefan Meuschel ist von
Haus aus Jurist und Theaterwissenschaftler; er hat zugleich einschlägige
Erfahrungen als Dramaturg, als Theaterregisseur und Filmemacher
und dann kam die Gewerkschaft ins Spiel. Heute ist Stefan Meuschel
geschäftsführender Vorstand der VdO, zugleich Mit-Herausgeber
der Zeitschrift Oper&Tanz.
Herr Meuschel, es existiert ja landläufig die Meinung, Singen
kann eigentlich jeder. Warum dann diese Bundesversammlung, warum
unter dieser nachdrücklichen Aufforderung: „Schaut her,
wir sind‘s“. Wer verbirgt sich eigentlich hinter diesem „Wir“?
Stefan Meuschel: Schön wäre es, wenn es tatsächlich
nur Leute gäbe, die Freude am Singen haben und singen würden.
Dem ist leider nicht so. Zur allgemeinen „Entkulturisierung“ gehört – in
der Schule angefangen – auch das fehlende Hinführen
zum Singen. Diesen Gesang meinen wir aber gar nicht. Wir, die VdO,
vertreten die Berufssänger, und hier insbesondere die Berufschorsänger.
Es ist viel zu wenig verbreitet, dass das ein ausgesprochen zeitraubender,
ein ausgesprochen arbeitsintensiver Beruf ist. Der Chorberuf ist
immer noch unterschätzt. Aber das ist nur einer der Aspekte
dieses Mottos „Schaut her, wir sind‘s“. Ein weiterer,
nicht ganz unwichtiger ist, dass die VdO, 1959 gegründet,
in diesem Jahr ihren 45. Geburtstag feiert. Der wichtigste Grund,
weshalb wir mit diesem zugegebenermaßen nicht ganz bescheidenen
Motto an die Öffentlichkeit gehen, ist aber, dass wir den
Eindruck haben, das deutsche Musiktheater gerät inzwischen
so zwischen die Mühlsteine, dass sich dieses „Schaut
her, wir sind‘s“ auf das deutsche Musiktheater insgesamt
bezieht. Hier muss etwas passieren. Volksdorf: Frau Schäfer; was muss eigentlich so ein Chorsänger
heutzutage können?
Claudia Schäfer: Er muss sehr
viel mehr können, als jemals
an der Hochschule gelehrt wird. Da unterscheiden sich natürlich
die großen und kleinen Häuser, weil man an großen
Häusern ein völlig anderes Repertoire spielt; ich kann
hier nur von unserem kleineren Haus sprechen. Man muss nicht nur
Oper singen, sondern auch Operette und Musical. Musical-Singen
ist eine ganz andere Art des Singens. Wir müssen dazu tanzen,
Choreografien ausführen; wir müssen teilweise steppen,
was wir auch nicht lernen; dies vielleicht noch in komplizierten
Gewändern, am besten mit langen Kleidern, die eng sind, und
einer Schleppe dran; und man muss natürlich lernen, sich in
einer Gruppe unterordnen zu können, und dennoch dominant zu
sein.
Volksdorf: Herr Brauer, als Chordirektor bestimmen Sie über
das Wohl und Wehe von 95 Chorsängern der Semperoper Dresden.
Welche Eigenschaften zeichnen eigentlich aus Ihrer Perspektive
einen guten Chorsänger aus?
Matthias Brauer: Ich habe ein gewisses
Problem mit dem Begriff „Chorsänger“.
Ich persönlich bin der Meinung, die Entscheidung eines jungen
Gesangsstudenten, in den Chor zu gehen, ist nicht unbedingt eine
Frage der Qualität. Deshalb spreche ich eigentlich lieber
von dem Sänger im Chor. Und damit ist eigentlich alles gesagt.
Sie haben eine volle Gesangsausbildung wie jeder andere Sänger
auch. Sie müssen allerdings wesentlich flexibler sein als
ein Solist. Ein Solist hat sein spezielles Fach. Der Sänger
im Chor muss jedes Fach bedienen. Wenn ich von unserem Haus ausgehe,
ist es die moderne Oper, ist es die klassische Oper,
ist es vor allen Dingen auch die alte Oper. Der Sänger im
Chor muss letztendlich fast jedes Genre beherrschen und dies innerhalb
von wenigen Tagen wechseln können. Und der Sänger im
Chor muss eine große Persönlichkeit sein, er muss sich
integrieren können, er muss flexibel und unheimlich diszipliniert
sein. Das alles zusammen erfordert ein Höchstmaß an
Persönlichkeit. Der Sänger im Chor ist für meine
Begriffe eines der vielfältigsten Berufsbilder, die wir am
Theater haben.
Volksdorf: Herr Meuschel, die Ausgangsposition
der Theater, deren Vertreter aus ganz Deutschland sich hier zusammengefunden
haben,
sind ja sehr unterschiedlich zwischen Nord, Süd, Ost und West.
Entsprechend, könnte ich mir vorstellen, waren auch die Fragestellungen
oder Problemstellungen sehr unterschiedlich. Was waren denn die
drängendsten Probleme, die sich in den letzten Tagen herauskristallisiert
haben?
Meuschel: Das wichtigste Thema,
mit dem wir uns befasst haben, war, dass alle Theater, wenn auch
in unterschiedlichem Ausmaß,
einer an beiden Enden brennenden Kerze gleichen. Das sind in der
hamburgischen Staatsoper nur läppische 300.000 Euro, das sind
an der Bayerischen Staatsoper 3,8 Millionen und das ist in Zwickau
das drohende Aus. Das ist die Bandbreite, aber überall ist
die Entwicklung identisch: Auf der einen Seite werden die Betriebszuschüsse
eingefroren oder abgebaut, auf der anderen Seite steigen die Kosten.
Das sind die beiden brennenden Dochte und das führt zu einer
Entwicklung, die das ganze Musiktheater ins Wanken geraten lässt.
Das war also das Kernthema, wobei wir natürlich nicht so naiv
sind, in einer Zeit, in der Bund, Länder und Kommunen derart
verschuldet sind, zu glauben, dass der Schrei an die Politik: „Wir
brauchen mehr Geld“ zurzeit in irgendeiner Form auf ein erfolgreiches
Echo stößt. Unsere Überlegung ist: „Wenn
sich denn alles schon stark verändert, wird auch dem Theater,
wird auch speziell dem Musiktheater nichts anderes übrig bleiben
als darüber nachzudenken, „Wie können wir es verändern?“ Nicht
nur im wirtschaftlichen Sinne, dass es kostengünstiger arbeitet,
sondern auch in Bezug auf die Motivation, diesen ganzen Schlamassel,
der auf uns zu kommt, zu ertragen. Wir sind dabei auf das merkwürdige
Phänomen gestoßen, dass ausgerechnet in einem kulturellen
Kommunikations-Institut wie dem Theater die interne Kommunikation
ein ausgesprochener Mangel ist und dass sich bei besserer interner
Kommunika-tion sehr viel gewinnen ließe. Das ist nicht bei
allen Theatern gleich schlecht; es gibt Theater, die da auf diesem
Gebiet durchaus vorbildhaft sind. Volksdorf: Herr Reininghaus, neben
dem Orchester ist der Chor ja zahlenmäßig die größte Berufsgruppe, eigentlich
so etwas wie eine Macht im Staate. Und trotzdem haben die Opernchöre
ja offensichtlich ein Wahrnehmungsproblem in der Öffentlichkeit.
Welche Aktie haben denn wir Journalisten daran?
Frieder Reininghaus: Sicher haben
die Journalisten an Mängeln
bei der Wahrnehmung der Opernchöre ihren Anteil. Das Paradoxe
liegt doch darin, dass die gesamte Tradition der Oper in hohem
Maß auf den Chor gestützt ist. Der Chor bekommt in der
Regel viel Applaus – und es ist gar nicht vorstellbar, dass
dieser Faktor in den Aufführungen fehlen würde. Dennoch
ist es so, dass dieser Chor, so bedeutsam er als Leistungsträger
im Gesamtkunstwerk Oper ist, kaum je einmal zum Star wird. Es gab
in der Außenwahrnehmung des Theaters in den letzten 400 Jahren
die erheblichsten Verschiebungen: von den Textdichtern, die im
17. und 18. Jahrhundert in der Regel sehr viel mehr Beachtung fanden
als später (und deren Namen oft in dicken Lettern auf den
Plakaten zu lesen waren) zu den Komponisten, von den Komponisten
zu den Dirigenten. Die Solisten nahmen in der Rezeptionsgeschichte
nicht immer denselben, aber stets einen hohen Rang ein – der
Chor nur in Ausnahmefällen. Dennoch: Das Musiktheater großen
Formats hat sich stets auch wesentlich auf den Chor gestützt – und
der professionelle Chor braucht in vielen Fällen auch das
Theater.
Volksdorf: Wenn wir jetzt irgendeine Musiktheater-Kritik
hernehmen von der letzten Premiere in Dresden, Hannover oder wo
auch immer,
dann kommt ja in den seltensten Fällen der Chor darin vor.
Warum wird das in den Printmedien, im Hörfunk und vor allem
im Fernsehen kaum reflektiert von unseren Kritikern?
Reininghaus: Ursächlich für diesen Mangel sind nicht
zuletzt die für Musik- und Opernkritiken von den jeweiligen
Redaktionen vorgegebenen „Formate“. Von den Platzmengen,
die Eduard Hanslick im 19. Jahrhundert hatte, um eine Kritik zu
schreiben, können wir nur träumen. Es ist relativ einfach,
auf vier, fünf Schreibmaschinenseiten in aller Ruhe den Text
zu beschreiben, die dramatische Aufbereitung, das Bühnenbild,
die Inszenierung, die Sänger durchzugehen und natürlich
den Chor zu würdigen. Bei einem Format von eineinhalb Minuten,
das manche Rundfunkanstalten inzwischen vorgeben, oder von dreißig
Zeilen bei Regionalzeitungen (oder auch Fachblättern), lassen
sich kaum mehr die wichtigsten Namen nennen, geschweige denn vernünftig
begründete Urteile abgeben. Der Chor war einer der ersten
Verlierer bei der Verknappung der Plätze, die für Kritik
zur Verfügung stehen – einfach schon durch die bereits
erwähnte Funktion in dem Gesamtgefüge Theater. Die Medien
haben also viel zu der für die Chöre unerfreulichen Situation
beigetragen und Schuld tragen zunächst wohl nicht die Kritiker,
die darüber nicht schreiben wollen, sondern die objektiven
Bedingungen. Natürlich wäre es sinnvoll, an denen etwas
zu ändern, wenn wir andere Theaterverhältnisse wollen.
Dann müssen wir uns auch darum kümmern, dass die Öffentlichkeit
die Theater wieder mehr und genauer wahrnimmt. Es genügt nicht,
zu rufen: „Schaut her, wir sind auch noch da“. Man
muss ruhig und sachlich auf die Öffentlichkeit Einfluss nehmen
und sagen, dass die regionalen, örtlichen Zeitungen das verändern
sollen. Dann werden die wiederum entgegnen: „Ja, das liest
doch niemand mehr! Das mag niemand!“ Und dann sind wir sehr
schnell bei der Frage, ob das Opernsystem nicht seit 1930 zunehmend
gealtert ist. Die Reaktion dieser Medien wird ja damit begründet,
dass objektiv das Interesse am Theater geschrumpft sei. Wenn man
auf der anderen Seite in Rechnung stellt, dass die öffentlich-rechtlichen
Rundfunksender eine Sondersteuer einziehen dürfen – die
mit einem besonderen Auftrag verbundene Rundfunk- und Fernsehgebühr – dann
muss man zunächst die Kritik hauptsächlich an die Adresse
der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten richten und insbesondere
auch gegen deren Demontage der Opernkritik. Volksdorf: Nichtsdestotrotz kann
ich Ihnen dazu sagen, dass wir bei uns im MDR immer noch 5 bis
6 Minuten Zeit haben für Kritik.
Frau Schäfer, wie erleben Sie das eigentlich im Alltag, besteht
da ein Missverhältnis zwischen den künstlerischen Anforderungen
an einen Allround-Opernchorsänger und dem, wie Sie wahrgenommen
werden in der Stadt, im Theater?
Schäfer: Wir haben das Glück, an einem kleineren Theater
zu sein. Uns passiert es regelmäßig in der Stadt, auf
dem Gemüsemarkt oder beim Bäcker, dass wir von Leuten
angesprochen werden, die uns als Chorsänger kennen, die sich
freuen über die letzte Inszenierung, die mit uns diskutieren
wollen. Vom Publikum spüren wir schon eine Akzeptanz. Wir
haben eher das Problem, dass wir im eigenen Haus nicht so recht
als Gruppe oder als wichtige Gruppe wahrgenommen werden.
Volksdorf: Und was ist ihr Vorschlag,
was kann man dagegen tun?
Schäfer: Ich finde es immer schade, aber
das betrifft vielleicht nicht nur den Chor, das betrifft auch das
Orchester, dass die Theaterleitung
nicht das Erfahrungspotential wahrnehmen will, das in den Leuten
steckt, die schon jahrelang an einem Haus gearbeitet haben. Denn
wir sind diejenigen, die jahrelang dort sind. Die Theaterleitung
wechselt vielleicht im Abstand von vier, fünf Jahren. Wir
wissen, was die Bedürfnisse der Einwohner sind, was sie gerne
sehen möchten, und wir können nicht leben, wenn wir die
Zuschauer vor den Kopf stoßen und sie aus dem Theater jagen.
Wir müssen schon auch Theater spielen für das Publikum.
Volksdorf: Herr Reininghaus, Sie
hatten ja im Rahmen dieses Kongresses ein Referat zu den Wirkungsmöglichkeiten des Chores für
das Theater nach außen. Wie kann denn oder wie sollte ein
Opernchor heutzutage nach außen am besten wirken?
Reininghaus: Er wirkt zunächst mal dadurch, dass er seine
Arbeit gut macht. Nun verändern sich aber die Qualitätskriterien.
Musste ein Opernchor traditionell vor allem Volksmasse darstellen,
also Volumen, Brustton haben, so wird heute ein sehr, sehr differenziertes
Können von den Sängern verlangt. Ein guter Chor, so wie
in den besten Zeiten der Chor der Deutschen Oper Berlin in den
80er-, 90er-Jahren, ist ein kolossales Instrument, mit dem sich
Theater der Spitzenklasse machen lässt. Natürlich wird
das wahrgenommen, wenn Arnold Schönbergs „Moses und
Aaron“ gegeben wird, da wird also selbst in der Kritik, die
nur eineinhalb Minuten dauert, in der Regel die imposante Leistung
des Chors erwähnt. „Moses und Aron“, Olivier Messiaens „Saint
François d’Assise“, große russische „Volksopern“ des
19. Jahrhunderts oder die Hauptwerke der Grand Opéra versprechen
große Stunden der Chöre, wenn solche Werke oft nach
sehr langer Vorbereitungszeit auf die Bühne bringen – welch
eine Mühe steckt da dahinter! Wir sehen das Resultat – es
verknüpft sich dann häufig vor allem mit dem Namen eines
Regisseurs, aber an der Produktion haben 600 oder 700 Leute enorm
gearbeitet. Opernchorsänger – das ist wohl eine Profession,
bei der man etwas für die Namen anderer oder die Institution
tut (und es ist gut zu wissen, dass dies so ist, wenn man diesen
Berufsweg wählt). Aber es kann sehr befriedigend sein, in
der zweiten oder dritten Reihe des Theaters mitzuarbeiten und am
hohen Leistungsstandard eines Hauses mitzuwirken.
Volksdorf: Werden denn die vielfältigen künstlerischen
Anforderungen von den Hochschulen so kommuniziert, also wird der
Nachwuchs, Herr Brauer, praxisnah auf das hin ausgebildet und auch
eingestimmt, was ihn dann an einem – sei es einem größeren
oder kleineren – Opernhaus erwartet? Welche Erfahrungen haben
Sie da? Brauer: Meine Erfahrungen mit den Hochschulen
sind sehr differenziert. Wir in Dresden, wir arbeiten nun eine
ganze Weile schon zusammen über
eine besondere Institution, das Opernkursstudio. Aber an sich ist
die Ausbildung an den Hochschulen für die Sänger und
speziell für die Sänger, die dann später mal in
den Chor gehen, mangelhaft. Das fängt damit an, dass die theoretischen
Fächer wie Gehörbildung, Theorie und Blattsingen eigentlich
Randerscheinungen sind. Die meiste Zeit wird damit verbracht, im
ersten Jahr schon mit den Arien zu beginnen, die man dann im Examen
singt. Eine richtige Ausbildung im Sinne einer Vielfältigkeit
findet dort einfach nicht statt. Das ist die Erfahrung, die ich
auch bei den Vorsingen immer wieder mache.
Volksdorf: Ich will mal die Frage
in die Runde geben. Sind Sie denn der Meinung, dass der sängerische Nachwuchs heute stilistisch
und künstlerisch umfassend ausgebildet an die Theater kommt?
Reininghaus: Davon gehe ich nicht
aus. Vor allem kleinere Theater, an denen eine Verpflichtung zur
Mitwirkung bei Musicals besteht,
nicht ohne weiteres von einem Probanten verlangen können,
dass er einerseits flott tanzend mit dem Mikrophon singen kann
und andererseits z.B. einer der 64 Solostimmen in einer höchst
komplexen Partitur von Klaus Lang gewachsen ist. Da gibt es auch
für die objektiven Möglichkeiten Grenzen – und
möglicherweise wird es Differenzierung, mithin Spezialisierungen
der einzelnen Häuser geben müssen.
Volksdorf: Sie meinen, dass also auch an den Theatern diese Spezialisierung,
die ja in der Musikszene schon Raum gegriffen hat, ein probates
Mittel wäre, um künstlerisch auf dem letzten Stand zu
sein, was zum Beispiel die zeitgenössische Musik oder auch
die Alte Musik anbelangt?
Meuschel: Diese Spezialisierung
hat zum Teil schon stattgefunden. Die Ausbildung zum Musicalsänger, Tänzer, Schauspieler – es
ist ja ein Kombiberuf – erfolgt beispielsweise heute zum überwiegenden
Teil in speziellen Schulen und weitab von den Hochschulen. Ich
würde den Satz wagen: „Gäbe es in Deutschland nur
Musikhochschulen und Schulen für darstellende Kunst, gäbe
es in Deutschland kein Musical. Ich stelle die Ausbildung, auch
von Schauspielern, aber in erster Linie von Sängern, durch
Hochschulen generell in Frage. Es ist ein völliger Unsinn,
einen Beruf, der doch zu einem großen Teil ein Lernberuf,
ein Studier-, ein Probierberuf ist, in die Semesterabfolgen eines
Universitätsbetriebs hineinzuzwängen, mit der absurden
Folge, dass dann die Schüler ihren Gesangsunterricht in den
Semesterferien gegen Bezahlung bei ihren Universitätslehrern
nehmen müssen. Es ist überhaupt in Frage zu stellen,
ob das auf Lebenszeit verbeamtete, ehemalige Künstler sein
müssen, die dort agieren.
Volksdorf: Zum Kulturauftrag der
Theater gehört ja auch, dass
sich gerade große Theater dem zeitgenössischen Musiktheater
widmen, und ich denke, gerade die großen Häuser haben
da eine besondere Verpflichtung. Wenn ich an ein Ausnahmestück
denke wie Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“:
Dieses Stück bedeutete ja für die meisten Chorsänger
absolutes Neuland, das war künstlerisch eine Grenzerfahrung,
weil es eben nicht mehr nur um den Umgang mit der Stimme, sondern
mit dem gesamten Körper ging. Brauchen Opernchöre möglicherweise
auch diese Ausnahmeprojekte, um dann entsprechend in der Öffentlichkeit
dafür honoriert zu werden?
Reininghaus: Mit Sicherheit bringen
solche Stücke das Theater
insgesamt weiter und gewiss auch die Chorsänger; zumal, wenn
sie dort als Solisten agieren. Überhaupt kennt das Theater
keinen Stillstand (Regressionsphasen durchaus). Seit es am Ende
der Renaissance entstanden ist, entwickelte gerade auch das Musiktheater
sich ständig weiter, kreierte immer wieder neue Gattungen,
Genres, Stilrichtungen und Produktformen. Es ist ein Unding, dass
einzelne Theater so sehr zum Museum werden. Der Chor profitiert
in der Regel, wenn er von den Innovationsprozessen nicht ausgeschlossen
wird. Als größtes Problem erscheint mir hinsichtlich
des unauf-haltsamen Fortschritts jedoch, dass von den wenigstens
100 Kompositionsaufträgen, die hier zu Lande jedes Jahr vergeben
werden, nur drei oder vier noch mit großer Chorbesetzung
bedacht werden. Der überwiegende Teil der Auftrags-Produktionen
führt zu Kammeropern; diese lassen sich gerade auch in kleinen
Häusern mit wenig Aufwand relativ rasch produzieren – eine
Sparmaßnahme. Ein Nebeneffekt besteht meist darin, dass die
Häuser durch die Uraufführung in die Presse kommen, ggf.
so-gar in die überregionale, dass die einzelnen Produktionen
jedoch vergleichsweise viel weniger kosten als eine wohlhabend
ausgestattete Mozart-Produktion oder ir-gendein mittlerer Verdi. – Leicht
kann der Chor zu den Modernisierungsverlierern am Theater gehören.
Dagegen müssen die Chorvorstände und die Chorgewerkschaft
ggf. angehen und von den Intendanten fordern bzw. bei Mäzenen
anregen, dass bei der Auftragsvergabe auf die Mitwirkung des Chors
geachtet wird.
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