|
Zugedröhnt und verschlagen
Oder: Wie Sänger missachtet
werden · Von Nikolaus Kuhn
Der „Ewige“, „der Mann“ und „das
Mädchen“ sind die zentralen Figuren in Kenneth MacMillans
1965 in Stuttgart uraufgeführtem Ballett zu Gustav Mahlers
1908 entstandenem „Das Lied von der Erde“. Es ist ein
orchestrierter Zyklus von sechs Sologesängen, abwechselnd
für Tenor und Alt. Die Verse sind chinesischer Lyrik in der
Nachdichtung von Hans Bethge entnommen und vom Komponisten textlich
bearbeitet. Nicht phonetisch oder gar instrumental setzt Mahler
die Gesänge ein, sondern es erzählen die Lieder eine
wehmütig verklärte, todestrunkene Liebesgeschichte, die
nachzuempfinden und zu erfassen, soll’s nicht spätromantische
Gefühligkeit bleiben, Verständlichkeit oder Kenntnis
der Texte voraussetzt.
Nicht an den beiden Gesangssolisten lag es, dass es an Textverständlichkeit
bei der Neueinstudierung der Choreografie MacMillans durch das
Bayerische Staatsballett mangelte. Die rechts und links am Bühnenportal
postierten Sänger, die Mezzosopranistin Danile Sindram und
der Tenor Kevon Conners, hatten das Ballett hinter, das Bayerisch
Staatsorchester vor sich. Die einen – vorzüglich die
drei Solisten Tigran Mihayelyan, Lucia Lacararra und Roman Lazik – konnten
beim Tanzen nicht leiser sein als es das Tanzen erlaubt, die anderen
aber mussten lauter sein als es das Musizieren mit Sängern
gebietet. Nur im fast kammermusikalisch angelegten „Kleinen
Porzellanpavillon“ („Von der Jugend“) verkniff
es sich der Dirigent Ryusuke Numajiri, hörbar zu machen, was
eine staatsorchestrale Harke ist: mit Triangel, Holzbläsern
und glockentönendem Horn lässt sich halt nicht groß aufspielen.
Die Gesangssolisten blieben samt ihren Liedern auf der Strecke;
da es auch keine Übertitelung gab, erschloss sich „die
Handlung“ dieses impressionistischen Handlungsballetts nur
den mit dem Text der Lieder Vertrauten.
Vertraut mit dem Text des Jägerchores aus Carl Maria von
Webers „Der Freischütz“ ist das Publikum allemal;
ihn gleich mitzusingen ist eine große Versuchung. Doch bei
der Premier des Freischütz in der Deutschen Oper Berlin wurde
das „Joho tralalala“ nicht mitgesungen, sondern ausgebuht.
Christine Lemke-Matwey beschreibt im „Tagesspiegel“ vom
26. März 2007, wie es dazu kam: „… zum Jägerchor,
mit Grausen. Gewiss, Hörner sind heikle Instrumente und können
schon mal patzen oder kieksen, vornehmlich in der ersten Nervosität.
Auch würde man es dem Italiener Palumbo (dem Generalmusikdirektor
der Deutschen Oper Berlin, d. Red.) kaum übel nehmen; (…)
wenn er sich mit dem Waldweben in Webers Partitur, ihrer biedermeierlichen
Innigkeit und Einfalt nicht recht zu identifizieren gewusst hätte.
Just aus solchem Fremdeln, solcher Spannung könnte ja was
entstehen. Dass Palumbo die besagte Paradenummer in einem Affenzahn
anging (wie er überhaupt zu keiner Zeit den nötigen Atem
für ds Stück aufbrachte und in den Tempi wahllos, kopflos,
konfus zwischen Ersterben und Davonrennen schwankte), verhieß nichts
Gutes. Und so war es eine Frage weniger freudloser Takte, bis die
Hörner um einen, ja fast um zwei Schläge hinter dem Chor
herhinkten. Dass das berühmte „Joho tralalala“ zwei
Strophen hat und in der zweiten exakt dasselbe passierte wie in
der ersten, mag als böses Indiz dafür gelten, dass die
Mannschaft sich auf diese Stelle noch nie hat einigen können.
Das Premierenpublikum jedenfalls zeigte sich bitterlich erbost. „Flensburg!“ schrie
es mitten in die Musik hinein, und dröhnend: „Buh!“.
Und Chordirektor Ulrich Paetzholdt erschien selbstredend gar nicht
erst zum Verbeugen.“
Merke: Erstens ist es eine unqualifizierte Unterstellung, am Schleswig-Holsteinischen
Landestheater, dessen Oper ihren Sitz in Flensburg hat, seien Wettrennen
zwischen Chor und Orchester üblich. Zweitens: Auf offener
Bühne ausgebuht zu werden, erfreut manchmal Regisseure, nie
und nimmer aber Sänger. Drittens: Ulrich Paetzholdt, der Chordirektor,
mochte und durfte sich nicht verbeugen, weil Generalmusikdirektor
Renato Palumbo ihm das übliche Mit-Dirigieren, und sei es
von einem der Bühnentürme aus, untersagt hatte. Viertens:
Dennoch unterließ es Palumbo, selbst mit dem Chor zu arbeiten.
Und fünftens: Die musikalische Leitung des Freischütz
wurde jetzt Attilio Tommasello übertragen.
|