|
Opernsonntag oder Fratelli di Taglio
Ein Bericht aus Italien (Teil 2) · Von Wolfgang Molkow
„Italien wird immer die Heimat der Musik
sein, wenn auch Bellini stirbt und Rossini schweigt“
Für Heinrich Heine mag dieser Satz noch eine unumstößliche
Wahrheit gewesen sein, auch wenn Bellini eigentlich Sizilianer
war und Rossini sein Opernglück in Paris fand. Heute hat sich
die internationale Tourismus-Börse die Heine-Sentenz auf die
Fahnen geschrieben, denn die eh schon klangvollen Orts- und Landschaftsnamen
Italiens lassen sich durch die entsprechende Musik des Südens
noch weit besser vermarkten. Und die italienische Oper dominiert
zwar weltweit, wird aber in ihrem Herkunftsland immer obsoleter
und fremder und verkommt oft zu reinem Marketing:
Stagione-Betrieb
„Rigoletto“, und „Traviata“ im Zusammenklang mit
Wein, Öl, Spaghetti und Pesto alla Genovese. Wir müssen
diese gastronomische Kombination von Küche und Kehle täglich
in der Werbung erdulden. Italien also – ein reines „Zimmer
mit Aussicht“ ohne Aussicht auf tönende Gegenwart?
Der entweder museale oder rein kommerzielle Umgang mit Oper rührt
auch von der herrschenden Praxis her. Italien unterliegt bis heute
weitgehend dem Stagionesystem; die Stagione bezeichnet das Gegenteil
zum deutschen Repertoirebetrieb. Es gibt nur eine begrenzte Zahl
von Neuinszenierungen pro Spielzeit, die in einer Serie von acht
bis zehn Aufführungen laufen und dann abgesetzt werden. Diese
geringe Ausnutzung aufwendiger Inszenierungen ist unrentabel gegenüber
jahrelang im Spielplan verankerter Aufführungen. Tradition
verbindet sich hier aber mit Notwendigkeit, denn mittlere Opernhäuser
antiker Städte wie Bologna oder Florenz verfügen nicht über
entsprechend große Magazine, um den Fundus jahrelang einzulagern.
Dem Opernalltag des Nordens steht so der Opernsonntag des Südens
gegenüber: Oper als ästhetischer Sonderfall vergangener
Kultur hier gegen Verlebendigungsvielfalt wie Aktualisierungssucht
dort. Als Kompromiss zwischen Stagione und Repertoire stehen allerdings
die Koproduktionen,
also Inszenierungen, die zwischen den Bühnen hin- und herwandern, ver-,
und angekauft werden. So schickte man zwei Jahrzehnte aus touristischen Gründen
die Mega-aufführungen der Arena di Verona in die Berliner Deutschlandhalle;
umgekehrt kann man die einst erfolgreiche Liebe zu den drei Orangen-Produktion
der Komischen Oper und andere Inszenierungen nördlich der Alpen noch in
Mailand, Genua und Neapel sehen. Auch die ersten beiden Ring-Teile „Rheingold“ und „Walküre“ beim
diesjährigen Maggio Musicale Fiorentino in der Inszenierung der katalanischen
Eventtruppe „La Fura dels Baus“ laufen in Koproduktion mit Valencia.
So gleichen sich in einer Mischung von Repertoire und Stagione Europas größere
Opernhäuser aneinander an: die Mailänder Scala etwa modifiziert ihr
System mehr und mehr hin zum Repertoiretheater, während umgekehrt die Wiener
Staatsoper einer Semi-Stagione zustrebt. Doch den Preis für wachsende Urbanisierung
zahlt die Provinz: weitgehend unbespielt bleibt die Vielzahl wunderschöner
italienischer Barocktheater Mittelitaliens, die noch vor nicht zu langer Zeit
vom Stagione-Wanderbetrieb lebten. Zudem unterliegt die Oper reiner Subventions-Willkür
von Seiten des Staates: das der Verdi- und Toscanini-Tradition verhaftete Teatro
Regio di Parma etwa wird zum Prunkmodell des Nordens ausstaffiert, während
die übrigen Theater geeint werden unter dem Slogan „Fratelli di Taglio“,
ein ironisches Wortspiel auf die Nationalhymne „Fratelli d’Italia“ mit
dem Wortsinn „Brüder der Kulturschere“.
So wundert es nicht, dass der neue GMD der Deutschen Oper Berlin,
Renato Palumbo, sich schon aus Gründen weit größerer Arbeits-chancen, die Deutschland
italienischen Musikern bietet, zu Gunsten des „nordischen“ Systems
ausspricht (Interview am 12. März 2007 mit der Berliner Morgenpost):
„
Ein Unterschied ist vielleicht, dass wir in Italien ein Sänger-orientiertes
Opernrepertoire haben. Ich habe oft darüber nachgedacht, wo der bessere
Weg ist. Wenn das Theater ein Museum sein soll, dann funktioniert der italienische
Stagionebetrieb besser. Soll die Oper lebendig bleiben, ist das deutsche Repertoire-Modell
besser.“
Die Lebendigkeit der Oper gilt es jedoch gerade in dem Land zu
verteidigen, wo
sie ursprünglich beheimatet ist; es gilt, den renommierten und traditionsreich
gewachsenen italienischen Orchestern und Opernchören eine einigermaßen
gesicherte Zukunft zu garantieren. „Va pensiero“ – Italiens Opernchöre Alfredo Casella soll dem jungen Luigi Dallapiccola in den 30er-Jahren
den wohl meinenden Rat gegeben haben, nicht zuviel für Chor
zu komponieren, wenn er seine Musik im eigenen Land hören
wolle. Damals schwankte das Repertoire italienischer Chöre
zwischen Opern- und Volksmusik. Auch wenn seitdem das Niveau erheblich
gestiegen und das Repertoire entsprechend bereichert ist, so
lastet doch nach wie vor italienische Traditionsschwere über dem Chorgenre.
Choropern oder -werke von Dallapiccola, Ghedini, Petrassi, Nono, Guarnieri
und anderer Vertreter der älteren und jüngeren Moderne erfreuen sich
bis heute keiner allzu großen Aufführungszahl.
Der Leiter des Mailänder
Scala-Chores Roberto Gabbiani, der sich seit Jahren um ein moderneres Repertoire
bemüht, spricht immer noch von einer Hemmschwelle
des Opernchoristen gegenüber zeitgenössischer und erst recht experimenteller
Musik. So bilde seiner Erfahrung nach in einem Stück wie Dallapiccolas „Tempus
destruendi“ die reine Intonation der großen Sept kein geringes
Problem. Da sich die Ur- oder Erstaufführungen schwieriger moderner Choropern
in Italiens Metropolen in Grenzen halten, ist naturgemäß die Gehörschulung
der Sänger bezüglich Mikrointervallen, Cluster, Glissandi et cetera
weniger intensiv als vergleichsweise bei den Opernchören Stuttgarts oder
Hamburgs. Umso größer ist Gabbianis Verdienst – wie auch das
seines Vorgängers Romano Gandolfi – den Scala-Chor in den 90er-Jahren
an Penderecki und Petrassi gewöhnt und Riccardo Muti für seine 20-jährige
Mailänder Direktionszeit ein Ensemble von „gothischem“ Ausdrucksvolumen übergeben
zu haben, das die Verdischen Opernchöre vom „Trovatore“ bis
zum „Otello“, vor allem aber das Requiem mit bronzener Wucht interpretiert.
Für diesen spezifischen Verditon sorgte natürlich bereits ein Toscanini,
wenn er Vittorio Veneziani verpflichtete; Jahrzehnte später kommt es zu
strengster Klangschule durch den „severissimo“ Roberto Benaglio,
ein wahrer Ton-Ingenieur, wie es in der Biographie des Scala-Chores heißt. Keine Spitzengehälter
Nicht weniger anspruchsvoll ist oder war der Coro del „Maggio Musicale
Fiorentino“, wie das berühmte Florentiner Maifestival heißt.
Nach der Orchestergründung 1928 durch Vittorio Gui bildet sich der Chor
1933 unter der Leitung Andres Morosinis und entwickelt sich unter Musikern wie
Gabbiani, Sicuri, Balderi und Basso zu einem der anspruchsvollsten Opern- und
Oratorienchöre Italiens, der – ähnlich dem Scala-Chor – in
den letzten 20 Jahren sein Repertoire auf Werke von Schönberg bis Berio
und Bussotti ausgedehnt hat. Wie bei dem Scala-Chor sind die Aufnahmebedingungen
recht streng; neben der vokalen Disposition und dem Prima-Vista-Singen verlangt
das so genannte Librone ein Vorbereitungsrepertoire von mindestens zehn Arien.
Die Bezahlung entspricht ungefähr dem eines durchschnittlichen italienischen
Lehrergehalts, beträgt also circa 2.000 Euro pro Monat. Entsprechend höher
eingestuft und auf Lebenszeit eingestellt werden die Chorsänger a ruolo – das
bedeutet mit Soloverpflichtung (Es gibt also keineswegs „Spitzengehälter“,
wie sie Jens Malte Fischer an deutschen Opernchören rügt).
Ein Ensemble, das neben den großen Berufschören Roms und Neapels – etwa
dem Coro dell´Accademia di Santa Cecilia- in den letzten zehn Jahren wachsende
Beachtung findet, ist der Coro del Teatro lirico di Cagliari; auch er einst unter
der strikten Stabführung Benaglios stehend. Zum ausgefallenen Opernrepertoire,
das sich Cagliari seit Jahren zum Programm macht, trägt der Chor unter seinem
jetzigen Leiter Paolo Vero seinen erheblichen Teil bei: ob Tschaikowskys „Opritschnik“,
Smetanas „Dalibor“, Marschners „Hans Heiling“, Wagners „Feen“,
oder – wie in diesem April „Die Vögel“ von Walter Braunfels
in italienischer Erstaufführung – stets hat der farbige und klangschöne
Cagliari-Chor seinen zentralen Platz in der Aufführung.
Wolfgang Molkow
|