Selbst die Mitglieder aus der zweiten Reihe des Wagner-Clans sind inzwischen von Gedenktagsverwertungsmechanismen erfasst. Im Spätsommer 2005 ergriff der greise Wolfgang Wagner, Herr des Festspielhauses in Bayreuth, die Chance, seine 75 Jahre zuvor endgültig abgetretene Großmutter Cosima, seinen ebenfalls 1930 in die ewigen Jagdgründe abberufenen Vater Siegfried und – besonders pikant – zugleich die 1980 verstorbene Mutter Winifred Wagner mit einer höchst prominent bestückten Großveranstaltung zu ehren. Dass Christian Thielemann bei dieser rechtslastigen Zusammenrottung in der Oberfrankenhalle zur Stelle war, verwundert nicht; eher, dass Pierre Boulez zur Teilnahme bewegt werden konnte. Nach diesem „Erfolg“ wurde nun Cosima ein weiteres Mal auf die Bühne gehievt. Zusammen mit dem vom Leben beschädigten Prof. Dr. Nietzsche. Der hat die Dame in jungen Jahren zeitweise schwärmerisch verehrt, seine Bemühungen blieben aber wohl unerwidert. Und so fragt sich, sekundiert von einem in der Badewanne postierten Cellisten, in einem neuen Bühnenstück ein vereinsamter älterer Mann zunächst ganz generell: „Wer liebt mich noch?“ Zu sehen und zu hören bekam man zur Musik von Siegfried Matthus den alten Friedrich N. Am Staatstheater Braunschweig trug Richard Salter (in der Inszenierung von Kerstin Maria Pöhler) aus einer schräg weggekippten Theater-Bühne, die deutlich an das Bayreuther Festspielhaus erinnerte, und dem seitwärts anschließenden Krankenzimmer Aspekte einer finalen Leidensgeschichte und Erinnerungen an Jugendträume vor. Er las einen Brief der alten Cosima W., geborene d‘Agoult, geschiedene von Bülow, die in Gestalt der schwarz verschleierten Karan Armstrong auch alsbald auftauchte, um in Erfahrung zu bringen, ob und gegebenenfalls wie indiskret die Oper zu werden verspricht, an der das Multitalent N. in der psychiatrischen Anstalt von Jena gearbeitet haben soll. In Gera wartete Martin Schülers Inszenierung mit einer von Dieter Richter aus der Truhe des Fin de Siècle gezauberten Opulenz auf, mit einer in Richtung „Zauberberg“ zielenden Sanatoriums-Atmosphäre. Aber auch diese fein gezeichnete Nobilitierung wertet das grob gestrickte Stück nicht grundsätzlich auf. Wie ein Leit- und Leidmotiv zieht sich ein vom Hintergrundchor bestrittener Satz durch das Pasticcio: „Es ist immer etwas Wahnsinn in der Liebe“. Eingeschlossen in die Klage des Philologen und Philosophen wurden Szenen aus dem trivialen Leben des Herrn von Bülow, damals der Pultstar der Zukunft, mit der strebsamen Cosima – überhaupt Episoden, welche die Windschlüpfrigkeit der Dame vorführen. Während zum Beispiel ihr emsiger Hans musikalische Hilfsdienste für das Jahrhundertgenie Wagner leistet, verrichtet dieser bei ihr im Nebenzimmer seine sexuelle Notdurft. Matthus, in der DDR-Endzeit bekannt geworden mit Opern wie „Cornet Rilke“ und „Judith“, servierte Hintertreppengeschichten aus Wagners Dunstkreis – gestützt angeblich auf hinterlassene Papiere Nietzsches, die in Schloss Rheinsberg gefunden worden sein sollen. Tatsächlich finden sich im Libretto zu diesem Montage-Werk Zitate, die aus jeder einschlägigen Nietzsche-Ausgabe zu beziehen sind. Dazu eine kräftige Sättigungsbeilage aus Wagner-Partituren sowie der zitatgestützte Hinweis auf die Bekehrung Nietzsches zu Bizet und „Carmen“. Am Ende führte Nietzsche/Salter einen seiner dionysischen Tänze auf: Er stimulierte sich mit einem kräftigen Schluck vom eigenen Urin, rieb sich den nackten Körper mit dem eigenen Kot ein und erschreckte die bravbürgerlich drumherumstehenden Choristen. Aus all diesen meist schlüpfrigen Facetten wird, trotz des aufopferungsvollen Engagements von Jonas Alber (in Braunschweig) und Eric Solén (in Gera) für die inhomogene Musikpalette, weder ein Stück spätberufener Literaturoper noch ein experimenteller Abend – ein Ideendrama, das im besten Fall nahe gelegen hätte, schon gar nicht. Was Matthus präsentierte, verkleinerte die Künstlerschaft und theoretische Höhenflüge der Protagonisten in allzu schnöder Weise. Zwar wird mit dem Stichwort vom Machtwillen eine der geschichtlich besonders problematischen Nietzsche-Sentenzen gelegentlich angetippt – „Das Wesen des Lebens ist sein Wille zur Macht“ –, doch setzen sich weder das Werk noch seine Inszenierung kritisch mit der von Cosima und Friedrich zum Nationalsozialismus führenden geistesgeschichtlichen Linie auseinander. Frieder Reininghaus
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