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Es ist kalt in Deutschland
Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern in Paris und Stuttgart
Die Komponisten hebeln die alte Oper aus: Kein strahlender Held lädt zur Identifizierung ein, keine zarte
Heldin zum Mitfühlen, kein schwarzer Schuft zu Rachegelüsten, kein Liedchen trällernder Komiker
zum Lachen. Keine Handlung bietet eine Orientierung, manchmal treten in neuen Opern überhaupt keine Figuren
mehr auf, wie in Adriana Hölszkys Tragödia. Texte, Geschichten, Menschen, Bilder verschwinden
in der Musik, verwandeln sich zu Klängen, komponierten Gesten, grellen Klanggebärden, wispernden Tongespinsten,
schabenden, knarrenden, kratzenden Geräuschen, die Instrumente erzeugen, wenn die klingende Musik ihnen
ausgetrieben wird.
Musik mit Bildern nennt Helmut Lachenmann sein erstes Bühnen-Stück (die Klassifizierung
als Oper verbietet sich von allein), das, wie das als thematische Vorlage dienende Märchen
Hans Christian Andersens den Titel Das Mädchen mit den Schwefelhölzern trägt. Das
Kind, das in der Silvesternacht Streichhölzer verkaufen soll und, als sich kein Käufer findet, die
Hölzer nach und nach anzündet, um sich in der grimmig kalten Luft zu wärmen, erhebt sich zur
Chiffre eines gesellschaftlichen Zustands, in dem Gefühlskälte, Teilnahmslosigkeit, Unverständnis,
soziales Desinteresse und Rohheit bis zur physischen und psychischen Gewalttätigkeit die menschlichen Nicht-Beziehungen
bestimmen. Im Erfrieren halluziniert das kleine Mädchen bei Andersen und auch bei Lachenmann noch das Licht
und die Wärme in den Häusern der Menschen, und es fühlt sich von der gütigen Großmutter
an die Hand genommen und in eine hellere, bessere Welt geführt. Doch in der Wirklichkeit sieht alles immer
zu Andersens Zeiten wie in unseren Tagen grausamer, härter, gnadenloser aus: Da liegt plötzlich
ein Mensch auf der Straße, tot, erfroren, starr und wird irgendwann fortgekarrt, nicht von der Großmutter,
nicht ins Helle, ohne Musik, und bestünde diese noch so sehr aus harten, gleichsam anklägerischen
Geräuschen, wie bei Lachenmann.
Lachenmanns Musik bringt das Sprachlose, die Ohnmacht, die Verweiflung zum Sprechen. Ihr Ausdruck, die unendliche
Vielfalt der Klänge, der Ton-Geräusche, der instrumentalen Kombinationen, der komponierten Gesten
und expressiven Gebärden mutiert zu einer anderen Sprache, die keine der üblichen Worte kennt und
dabei mehr sagt, als tausend Worte vermögen: Deutschland, kaltes Land das sagte einmal
in monotoner Repetition eine junge Türkin in einem Film von Helma Sanders (Shirins Hochzeit).
Der Film entstand 1976. Ein Jahr später erhängte sich das RAF-Mitglied Gudrun Ensslin in ihrer Gefängniszelle
in Stammheim. Lachenmann kannte die Pastorentochter Gudrun Ensslin und ihre Familie aus nachbarschaftlicher
Nähe und Freundschaft. Er erkannte in dem jugendlichen Aufruhr sicher auch die terroristischen Energien,
ebenso bestimmt aber auch den Versuch einer gesellschaftlichen Veränderung, der fast zwangsläufig
in Vergeblichkeit, Vereinzelung, Verirrung enden musste. Lachenmanns Mädchen-Märchen-Oper erzählt
keine Handlung, berichtet dafür von einem Zustand, in dem sich Menschen in unserem Land und nicht
nur dort befanden und weiter befinden. Und seine Musik erstellt die Kältekammer, in der sich alles
vollzieht.
Für eine Theater-Inszenierung bietet Lachenmanns Mädchen keinen oder bestens einen falschen
Ansatz. Realistische Direktheit ist nicht gefragt. Das demonstrierte schon Achim Freyer in seiner Ur-Inszenierung
1997 an der Hamburgischen Staatsoper. Erforderlich sind Bilder, die im Zusammengehen mit der Musik Zustände
beschreiben, Bilder, in denen die anwesenden Personen einschließlich des Mädchens Zeichen setzen,
zu Figurinen sich stilisieren, die mit Gesten, Gebärden, schmerzhaften Körperhaltungen von einer Geschichte
berichten, die nicht mit Worten erzählt zu werden braucht. Peter Mussbachs Stuttgarter Inszenierung, die
als Vorpremiere im Rahmen des Pariser Herbstfestivals schon im Palais Garnier in einigen Aufführungen
gezeigt wurde, geht in der Verknappung des Bildhaften, in der Reduzierung des Optischen noch über Freyers
Hamburger Darstellung hinaus. Aus den kleinen Lichtrechtecken, die sich à la Robert Wilson im schwarzen
Portalvorhang wechselnd rasch öffnen und wieder schließen, tritt nach und nach die Erscheinung des
Mädchens hervor, eine schmale, kalkig-weiße Sterbensikone, die auch einmal auf dem Kopf stehend-hängend
erscheint: Ein gefallener Engel. Dann vergrößern sich die Bilder, ohne das Diffuse, die Ferne, die
traurige, kalte Einsamkeit zu verlieren. Wie zwei Riesenfiguren, eine weiße und eine schwarze, wandern
am Ende Mädchen und Großmutter, im Schattenspiel überdimensional verdoppelt, über die Hügel
in eine weite, unbestimmte, unbekannte Ferne. Und die Shò-Spielerin, die in Hamburg im Orchester auf
einem eigenen Podest überhöht agierte, sitzt bei Mussbach nun inmitten dieser Landschaft, verloren
auf einem schneebedeckten Berg. Und es gelingt wohl nur der wunderbaren Japanerin Mayumi Miyata, dem kühlen,
manchmal fast elektronisch erzeugt wirkenden Ton ihres Instruments den geheimnisvollen Klang einer unendlichen,
den Menschen fernen Trauer zu entlocken. Grandios, wie alles an dieser zweiten Darstellung des Werkes, die,
wie in Hamburg, von Lothar Zagrosek dirigiert wurde, diesmal natürlich mit dem Stuttgarter Opernorchester,
das, nach dem Pariser Vorlauf, in Stuttgart mit einer Konzentration, Gelöstheit und Präzision agierte,
dass man fast überhören konnte, was für Schwierigkeiten und Sperrigkeiten der Komponist in seine
Partitur im Interesse der Wahrheit hineingeschrieben hat. Im Februar nächsten Jahres sind an der Stuttgarter
Oper weitere Aufführungen des Mädchens mit den Schwefelhölzern eingeplant.
Gerhard
Rohde
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