Boulez, der Freund
Ein Rückblick von Manfred Jung
Euch macht ihrs leicht, mir macht ihrs schwer, gebt ihr mir Armen zu viel Ehr!
Diese Worte, gesungen von Hans Sachs, aus dem 3. Aufzug Die Meistersinger von Nürnberg, schossen
mir durch den Kopf als mich Herr Meuschel fragte, ob ich aus Anlass der Verleihung des Wilhelm Pitz-Preises
2001 an Herrn Prof. Dr. Boulez, einige Worte richten würde. Meine Erinnerungen gingen zurück ins Jahr
1966, als ich im Sommer Stipendiat des Richard-Wagner-Verbandes war. Damals dirigierten Sie, sehr geehrter Herr
Boulez, den Parsifal in der Inszenierung von Wieland Wagner.
Die Kundry wurde gesungen von Astrid Varnay, die 1988 den Wilhelm Pitz-Preis erhielt. Den Gurnemanz sang Josef
Greindl, der 1986 den Wilhelm Pitz-Preis erhielt. Den Parsifal sang Sandor Konya; Amfortas war Eberhard Wächter.
Die fünfte Vorstellung Parsifal war am 21. August 1966.
Zwei Monate später, am 21. Oktober 1966, waren Sie wieder in Bayreuth. Der Anlass Ihres Besuches war
ein sehr trauriger. An dem Tag fand im Festspielhaus auf der Hauptbühne die Trauerfeier für den verstorbenen
Wieland Wagner statt. Vor dem abgesenkten Eisernen Vorhang stand der helle Eichensarg Wieland Wagners. Davor
die Totenmaske. Die Trauerfeier begann mit dem Vorspiel zum Bühnenweihfestspiel Parsifal, das
von Ihnen dirigiert wurde. Am Ende der Trauerfeier sang der Festspielchor mit dem Orchester der Bayreuther Festspiele
unter dem Dirigat von Wilhelm Pitz den Schlusschor aus der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach Wir
setzen uns mit Tränen nieder.
Wieland Wagner versprach sich viel von der ersten Zusammenarbeit mit dem ungewöhnlichen Boulez,
einem der erklärten Aufrührer der Traditionen. Zu diesem Zeitpunkt waren Sie bereits ständiger
Mitwirkender der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik ab 1952 sowie der Donaueschinger
Tage ab 1959. Aber nochmals zurück zum Parsifal im Sommer 1966: Die akustische Entrümpelung
fand statt, als Pierre Boulez am Hügel erschien. Wieland Wagner wollte nach der so genannten szenischen
Revolution den Neuen Klang.
Was hilft es, auf der Bühne neue Wege zu gehen, wenn aus dem Geist des vorherigen Jahrhunderts
heraus musiziert wird? Dies sind Gedanken Wieland Wagners.
Dann kam das Jahr 1970. Ich durfte auf Einladung von Wilhelm Pitz im Bayreuther Festspielchor mitsingen. Der
Parsifal wurde wieder von Ihnen, sehr geehrter Herr Boulez, dirigiert. Bei der ersten Probe mit
dem Orchester war ich erstaunt, dass der Maestro keinen Taktstock benutzte. Alle Suggestion ging aus den Fingern
seiner sprechenden Hände. Man spürte sofort, dass er eigene bestimmte Ideen hatte, wie man Wagner
aufzuführen habe. Ein klarer Bruch zu jener Tradition der Aufführungen von Hans Knappertsbusch.
Im Sommer 1976 gab es den so genannten Jahrhundert-Ring. Herr Boulez war vom Festspielleiter, Herrn Wolfgang
Wagner, gebeten worden, die musikalische Leitung zu übernehmen und er hatte den jungen unbekannten Regisseur
Patrice Chéreau und Wolfgang Wagner zusammengebracht. Der Dirigent auf der Suche nach dem Regisseur.
Ich saß bei den Generalproben im Zuschauerraum und sah überrascht und erstaunt, wie zum Ende des
Vorspiels Das Rheingold die Götter nicht in Walhall einzogen, sondern puppenähnliche Gebilde
an einer Wäscheleine hochgezogen wurden.
Im November 1976 erhielt ich von Herrn Wolfgang Wagner eine Einladung zum Vorsingen nach Bayreuth. Mitte Dezember
1976 sang ich ihm und seiner Frau im Festspielhaus vor. Nach dem Vorsingen sagten Sie mir, Herr Wagner, wir
sollten uns am dritten Weihnachtstag, also am 27. Dezember, in Baden-Baden mit Herrn Boulez treffen. Dann sagten
Sie mir, sehr geehrter, lieber Herr Boulez, dass Sie sich freuen, mich im Sommer in Bayreuth wiederzusehen...
Wenn Sie, Herr Boulez, keine Orchesterproben hatten und zu den szenischen Proben kamen, wurde ausgesungen,
weil beim Markieren und Andeuten oft ein anderes Tempo entsteht und die Textverständlichkeit nicht sonderlich
gut ist.
Pierre Boulez ist eine musikalische Universalbegabung, Komponist, Theoretiker und Dirigent. Seine Persönlichkeit,
die so viel Polemik ausgelöst hat, hat ihren Grund in der Größe seiner musikalischen Begabung.
Ein analytischer Ansatz. Das zielstrebige Aufdecken von Strukturen. Die Suche nach perfektem Klang. Es
gibt in der Frage der Interpretation keine Wahrheit, lautet eine seiner Maximen. Spitzenorchester fürchten
den Präzisionsfanatiker, weil er unerbittlich ist und verehren ihn genau aus diesem Grunde.
Die Reaktionen auf die Ring-Premiere 1976 stellten alles bisher Erlebte in den Schatten. Begeisterungsstürme
und Protestaktionen tobten sich aus. Das Publikum verfeindete sich bis zur Handgreiflichkeit. Vereine für
und gegen Chéreau und Boulez wurden gegründet. Denken Sie nur an die Trillerpfeifen
im Siegfried, 2. Akt.
Erschien im ersten Jahr Wolfgang Wagners Mut zum Risiko bei der Verpflichtung des französischen Teams
bewundernswert, so siegte seine Hartnäckigkeit im Bemühen, diesen Ring beim Publikum und bei den Medien
durchzusetzen. Der Erfolg war mehr als nur Bestätigung seiner Intentionen.
Von Jahr zu Jahr wuchs die Zahl der Bewunderer. Die Reihen der Gegner lichteten sich. Aus den feindlichen
Lagern kamen Überläufer und die letzte Aufführung 1980 endete in einem Schlussapplaus von
85 Minuten und 101 Vorhängen.
Der Musikreformer Pierre Boulez hat fünf Jahre unbeirrt weitergearbeitet, obwohl seinem Dirigat die Anerkennung
lange versagt blieb.
Vom Endergebnis waren auch routinierte Zweifler hingerissen:
- von der flüssigen Erzählweise des Orchesters
- von der Transparenz der Motiv-Verflechtungen
- von der liebevoll auf die Sänger eingehenden Detailarbeit
- von den tausend ungeahnten und bisher überhörten Schönheiten
- und natürlich von der Verwirklichung einer meist vergeblich ersehnten Einheit, dem wahrhaften Liebesverhältnis
zwischen Szene und Musik.
Wilhelm Furtwängler schrieb einmal, dass in den Opern Richard Wagners das Wort und der Ton eine Liebesgemeinschaft
eingehen müssen, wie zwei Flüsse, die zu einem reißenden Strom werden. Geistige Größe
ohne pathetische Hohltönerei, Rausch einer Geistesverwirrung. Die dramatische Aufgipfelung auf dem Fundament
impressionistischer Klangbilder gaben Wagner neue Konturen.
1980 saß Wotan bei der letzten Aufführung der Götterdämmerung im Parkett und wurde vom
Publikum mit Applaus empfangen. Donald Mc Intyre, der vorher drei Abende lang auf der Bühne den Speer gehalten
hatte, kam zum Schluss und Höhepunkt als Besucher. Dies war eines der unzähligen kleinen
Signale dafür, welches Maß an gegenseitigem Interesse das Team dieses Projektes inspiriert und zum
letztlich kaum noch beschreibbaren Erfolg geführt hat.
Möglich war diese Steigerung nur durch ein Zusammenspiel aller Kräfte, deren geistiger Mentor Sie,
Herr Boulez, waren.
Insgesamt haben Sie 68 Vorstellungen aus Der Ring des Nibelungen in Bayreuth dirigiert.
Lassen Sie mich noch etwas sehr Persönliches sagen.
Am Ende der Festspielzeit 1977 sandten Sie mir, sehr geehrter, lieber Herr Boulez, einen Brief, in dem Sie
mir ganz besonders für meinen Beitrag zum diesjährigen Ring dankten.
Die Anrede war: Lieber Herr Jung Zum Abschluss: Mit herzlichen Grüßen.
Im zweiten Jahr erhielt ich einen ähnlichen Brief. Im dritten Jahr mit der Fernseh-Aufzeichnung Götterdämmerung
war die Anrede: Lieber Manfred Und am Ende: Mit bestem Dank und herzlichen Grüßen,
Ihr Pierre Boulez.
Nach der Fernseh-Aufnahme 1980 Siegfried teilten Sie mir, sehr geehrter lieber Herr Boulez, mit:
Lassen Sie mich Ihnen sagen, wie glücklich ich über das Resultat bin und wie schön und
reibungslos die Arbeit mit Ihnen war. Ich danke Ihnen für alles. Mit sehr herzlichen Grüßen,
Ihr Pierre Boulez.
Was sagt das? Warum gebe ich hier so ganz persönliche Dinge preis?
Es wurde viel über den großen Künstler Pierre Boulez gesprochen. In der Oper Die Zauberflöte
gibt es am Anfang des 2. Aktes eine Dialog-Szene vor der Arie des Sarastro mit dem Chor: O Isis und Osiris.
Sarastro wird von dem Sprecher und zwei Priestern nach Tamino, dem Königssohn, befragt.
Frage: Er besitzt Tugend?
Antwort: Tugend.
Frage: Auch Verschwiegenheit?
Antwort: Verschwiegenheit.
Frage: Ist wohltätig?
Antwort: Wohltätig.
Frage: Wird Tamino die harten Prüfungen bekämpfen? Er ist Prinz.
Antwort: Noch mehr er ist Mensch!
Manfred
Jung
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