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Berichte

Das zweite Jahr

Der Bayreuther Ring Von Julia Spinola

Jürgen Flimm hat an seiner Inszenierung gearbeitet, manches verändert, weniges verbessert. Dennoch ist ihm auch im zweiten Festspieljahr keine überzeugende Deutung des „Rings“ gelungen – vom vermeintlichen „Jahrtausendring“ ganz zu schweigen. Wagner sei „Organisator von Massen: von großer Masse des Mythos, von großen langatmigen Scenen. Gesetzgeberisch für ganz große Verhältnisse“, schrieb Nietzsche. Und gerade weil er diese souverän beherrsche, könne er den „Rhythmus im Kleinen“ so bewegt und lebendig gestalten wie niemand vor ihm.

Ähnliches hatte auch Flimm womöglich im Sinn, als er sich daranmachte, die übergreifenden Zusammenhänge und großen Bögen des verschlungenen Mythos gleichzeitig strukturierend in den Griff zu bekommen und detailreich auszupinseln. Und dennoch ist ihm das Ganze dabei unter den Fingern zerbröselt. Denn jene leitmotivisch wiederkehrenden Schauplätze und Requisiten, die wie stützende Pfeiler eines großen Baugerüsts seiner Interpretation Halt verleihen sollen, lassen den Beziehungszauber des Werks auf Kleinsparerverhältnisse zusammenschnurren: eine Implosion, durch die der große mythische Atem des Werks etwas beklemmend Asthmatisches erhält. Die vielen Einfälle aber, mit denen der Regisseur kehrseitig zu dieser Ökonomie die Bühne voll stopft – Wotans Kampf mit dem Aktenschredder, Alberichs „Aldi“-Tüte, Walküren beim Bungeespringen, neu dabei: der im Reclamheft lesende Waldvogel aus dem Souffleurkasten – wirken beliebig und unverbunden.

   

Walküre 3. Akt, 3. Szene, L. DeVol, A. Titus. Alle Fotos: Festspiele

 

Dass Brünnhilde in der „Walküre“, anstatt von Wotan aus Walhall verbannt zu werden, auf Erich Wonders Bühne in das monumentale High-Tech-Walhallgehäuse eingesperrt wird, hat noch eine gewisse Plausibilität. Der stählerne, phallisch in die Höhe ragende Sarkophag, zu dem sich die Götterburg dann verschließt, scheint Isolation und Vereinnahmung Brünnhildes in einem Bild zu verdichten: Wotan verbannt seine Tochter, um sie ganz für sich zu haben. Warum aber ist Mimes Höhle in Flimms Deutung Hundings Hütte? Dass Sieglinde, nachdem ihr Wälsungenbruder durch die Hand des verhassten Gatten gefallen ist, ausgerechnet zurück in ihr altes, ungeliebtes Heim flieht, scheint wenig plausibel. Noch absurder ist die Vorstellung, dass Siegfried, nachdem er Brünnhilde zur „leuchtenden Liebe lachendem Tod“ erweckt hat, nichts anderes einfällt, als mit dem kühnen, herrlichen Kind die miefige Höhle seines überfürsorglichen Stiefvaters zu beziehen. Zwar sind die Wände dieses, im ersten Bild der „Götterdämmerung“ bereits recht strapazierten Intérieurs, nun fortgerissen, aber man sitzt und speist wie eh und je an jenen weißen Gartenmöbeln im Schilf, die Siegfried von Mime und dieser offenbar auf wundersame Weise vom alten Hunding geerbt hat.

Flimm raubt den Figuren jede Größe. Dass Götter auch nur Menschen seien, erscheint als Quintessenz eines nahe liegenden, weder besonders gewagten noch besonders ergiebigen Aktualisierungsversuchs. Dass Menschen stets nur Kleinbürger seien, wirkt hingegen nur noch ressentimenthaft. So erscheint Brünnhilde nach ihrer Befreiung durch Siegfried als jämmerlich anzusehendes, jeder erotischen Ausstrahlung vollständig abholdes Heimchen am Herd. Aber war es nicht so, dass dieses wilde Weib durch den furchtlosen Helden zur entfesselten menschlichen Leidenschaft erweckt worden ist? Auch dass Siegfried seinen Tod durch Hagen just an jenem Ort findet, wo er vorher seine Heldentat vollbrachte – vor der Neidhöhle nämlich, die hier eine Bauabsperrung ist („Eltern haften für ihre Kinder“), dort wo er einst den Drachen besiegte, der sich hier freilich auch nur als Krüppel im Rollstuhl entpuppte – auch dieser Einfall folgt der gleichen Logik: Hier wird es dem Helden heimgezahlt.

Hat man sich indes erst einmal von der Erwartung auf eine, wenn schon nicht überzeugende, so doch wenigstens in sich stimmige Deutung des Werks verabschiedet, nimmt die Inszenierung durch einzelne eindringliche Szenen für sich ein. Brünnhildes Auseinandersetzung mit Wotan, „War es so schmählich, was ich verbrach?“, geht unter die Haut: Wotan betreibt mit seinen Kindern ein kaltschnäuziges Erpresser-Spiel um Zu- und Abwendung, an dem das töchterliche Flehen abprallt wie an einer Stahlwand. Ganz konsistent ist das freilich auch nicht, denn wenige Theaterstunden zuvor, im „Rheingold“, hatte sich dieser unempfänglich-technokratische Machtmensch noch als leicht verlotterter Hedonist präsentiert, der den sinnlichen Verlockungen des Lebens schutzlos ausgeliefert wäre, hätte er nicht eine Ordnung schaffende Ehefrau.

Wie aus einem Guss wirkt dagegen der erheblich überarbeitete zweite Akt der „Götterdämmerung“. Altar und bronzefarbener Hintergrund vom Vorjahr sind entfallen. Die aus Stahl und Glas gebaute mehrstöckige Verwaltungszentrale des Gibichungen-Konzerns ist um eine Brücke erweitert worden, was eine klare, äußerst packende, gleichsam symmetrische Entfaltung der Intrige erlaubt. Neu gestaltet wurde auch der Kampf mit dem Drachen: Imposanter als das ungelenke Drahtgestell vom letzten Jahr erscheint nun ein gallertartiges Monster, das sich eindrucksvoll aufblähen kann.

Das Ende der Tetralogie möchte Flimm nach wie vor ganz so endgültig wie bei Wagner vorgesehen nicht akzeptieren. Zwar lässt er nun kein rettendes Parsifal-Kind mehr auftreten. Dafür aber leuchtet das Heil nun galaktisch, als gleißendes Gegenlicht, dem die Menschen entgegengehen wie dem lichtdurchfluteten Raumschiff in Spielbergs „Unheimliche Begegnung der Dritten Art“. Hagen bringt sich um, indem er Gutrune ins Schwert rennt. Das erscheint zwar als stimmige Konsequenz aus John Tomlinsons beeindruckender Charakterisierung dieser Figur als selbstquälerische, hasszerfressene Gestalt, hat aber zur Folge, dass er sich recht lächerlich noch lange halbtot herumschleppen muss, bis er den Rheintöchtern wiederbegegnet.

   

Jürgen Flimm

 

Was Flimm nicht glückte, die Einheit von übergreifender Logik und prägnantem Detail, meisterte Adam Fischer musikalisch mit ungemeiner Lebendigkeit und dramatischer Plastizität der thematischen Gestalten, sprechender Agogik, flexiblen Tempi und kräftigen Farbwirkungen bei gleichzeitig sicherem Sinn für Proportion und formale Struktur. „Es ist, als ob es auch noch kein Orchester gegeben habe, bevor seines erklang“, schrieb Nietzsche über Wagner, „das beseelte Leben jedes Instrumentes war früher gar nicht da“. Schon im irisierenden Es-Dur des „Rheingold“-Vorspiels erhielt diese Einschätzung schlagende Präsenz: Bei allem klangsinnlichen Glitzern formte Fischer die einzelnen Linien so plastisch und filigran, dass die Musik ligetihaft zu schweben begann, während die multidimensionalen Schichtungen zugleich bis in den letzten Winkel durchhörbar gerieten. Fischer hat immer Wert auf Vielseitigkeit des Repertoires gelegt, neben Haydn und Mozart auch viel Bartók dirigiert. Das meinte man im unverzärtelten Ernst, einer unumwundenen Direktheit seiner Formulierungen, sowie manch drastischer Charakterisierung – etwa des polternden Riesen-Motivs – zu hören. Wie trocken und atemlos sich der Sturm des „Walküren“-Vorspiels entwickelte, wie luftig-federnd dagegen der Walkürenritt, wie suggestiv Fischer den lastenden Atem von Mimes Höhle zu Beginn des „Siegfrieds“ innerhalb weniger Takte den ganzen Saal beherrschen lässt, wie die Depression der Götter in den Dialog zwischen Waltraute und Brünnhilde („Höre mit Sinn, was ich dir sage“) als Schrecksekunden, apokalyptische Leere hineinklingen: All das machte einem das Werk schlagend präsent, in einer Dramatik, die jene der Inszenierung weit hinter sich ließ.

Sängerisch dagegen konnten die Aufführungen dieses außerordentliche musikalische Niveau nur in wenigen Einzelleistungen halten. Christian Franz entlockte als strahlender Titelheld des „Siegfried“ seiner Partie nicht nur heroischen Glanz, sondern eine Vielfalt an differenzierten, lyrisch intimen Zwischentönen: ein Tenor, mit einem unerhörten Klangreichtum und einer völlig unverbrauchten Höhe. Überragend gelang auch John Tomlinsons Gestaltung des Hagen mit schwarzer, unerschütterlicher, zugleich melodiöser Bassgewalt. Luana de Vol, gefeierte Stuttgarter „Götterdämmerungs“-Brünnhilde, die diese Partie im gesamten „Ring“ für die im Streit von Bayreuth geschiedene Gabriele Schnaut übernahm, erfüllte die in sie gesetzten Erwartungen nur zum Teil. Ihr luxurierendes sopranistisches Timbre kann sie in der Höhe geschliffen funkeln lassen und in der Tiefe auratisch eindunkeln. Durch bisweilen forcierte, stark tremolierende Tongebung verschenkte sie indes auch einiges von ihrer Differenzierungskunst. Neu im „Rheingold“ ist Graham Clark als tenoral wie darstellerisch versatiler Loge, weniger überzeugend seine auch stimmlich allzu chargenhaft überzeichnete Interpretation des Mime im „Siegfried“. Robert Dean Smith als neuer Siegmund und Wolfgang Schmidt als „Götterdämmerungs“-Siegfried fehlte es an Nuancierung und vokaler Geschmeidigkeit. Auch Alan Titus´ Wotan hätte man mehr melodische Konturiertheit gewünscht. Violeta Urmana (Sieglinde) und Mette Ejsing (Erda) hingegen verströmten viel vokalen Schmelz.

Die Autorin dieses Artikels, Julia Spinola, ist Redakteurin der F.A.Z.

 

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