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Aktuelle Ausgabe

Editorial

Wilhelm Pitz-Preis

Komponist, Dirigent, Interpret
Pierre Boulez erhielt in Bayreuth den Wilhelm Pitz-Preis der VDO
Zeitgenosse Boulez
Stefan Meuschels Begrüßungsansprache
Boulez, der Freund
Ein Rückblick von Manfred Jung
Bayreuth wird nicht gesprengt
Pierre Boulez über seine Arbeit, den Preis und die Musikkultur

Kulturpolitik
Das Ende einer Ära
Rückblick und Ausblick am Staatstheater Hannover

Portrait
Eine Frau auf dem Chefsessel
Die Nürnberger Ballettdirektorin Daniela Kurz
Phönix aus der Asche
Das Badische Staatstheater Karlsruhe

Berichte
Weikersheim: Puccini im Container
Bregenz: Monumentale „Bohème“-Inszenierung
Salzburg: Die Ära Mortier in Salzburg endete turbulent
Bayreuth: Der Bayreuther Ring


Rauschende Rasanz
Ein „Who’s who“ der Verdi-Diskografie (Teil 2)

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Wilhelm Pitz-Preis

Bayreuth wird nicht gesprengt

Pierre Boulez über seine Arbeit, den Preis und die Musikkultur

Lieber Herr Meuschel, lieber Herr Krützfeldt, lieber Herr Jung – lieber Manfred, sehr verehrte Damen und Herren,

als mir die Nachricht übermittelt wurde, dass meine Person für den Wilhelm Pitz-Preis ausgewählt sei, war ich vor allem erstaunt, die Liste der bedeutenden Persönlichkeiten, die mir vorangegangen waren, zu sehen. Alle waren sie berühmt, alle haben sie eine kapitale Rolle im Erbe Wagners, wenn ich so sagen darf, gespielt, alle haben einen Großteil ihrer Tätigkeit dem Komponisten gewidmet, während ich selbst nur eine vorübergehende, episodenhafte Rolle in dieser langen Saga spielte. Bayreuth, Wilhelm Pitz, – dies hat mich auf einmal 35 Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt, als ich an einem Abend im Juni 1966 in Bayreuth ankam und, um mich an diesen Ort zu gewöhnen, an dem ich zum ersten Mal tätig werden sollte, mit der Besichtigung des Theaters begann. Ich werde niemals diesen ersten Eindruck vergessen: die Architektur als Wirklichkeit gewordene Imagination des Komponisten, Skulpturobjekt in perfektem Einklang mit dem Werk. Vielleicht habe ich in diesem Moment am anschaulichsten das Theater gewordene Genie des Komponisten empfunden.

   

Von Darmstadt nach Bayreuth – ein langer Weg. Pierre Boulez. Foto: Charlotte Oswald

 

Und ich, woher kam ich? Von weit her, gewiss, und unerwartet, sowohl für mich als auch für die anderen, die meine Entscheidung, unerfahren hierher zu kommen und im Allerheiligsten das höchste Werk zu dirigieren, überrascht hatte. Woher ich kam? Ganz einfach aus Darmstadt. Geografisch gesehen ist die Entfernung sicher nicht sehr groß, aber immens war die Kluft zwischen dem bewegten Zentrum der zeitgenössischen Musik und dem wagnerischen Heiligtum. Diese beiden Festungen hatten nichts Gemeinsames und waren noch nicht einmal durch den polemischen Geist, den es zur Zeit Debussys oder Strawinskys gab, miteinander verbunden. Ich hatte dort also zehn Sommer, genauer gesagt zehn Teilsommer von 1956 bis 1965 verbracht, als Wieland Wagner feststellte, dass „Parsifal“ nach dem Versterben von Hans Knappertsbusch Waise war und mich einlud, ihn zu ersetzen. Das bedeutete, sein Vertrauen mit sehr viel Kaltblütigkeit in mich zu setzen, denn ich hatte nur mit einer einzigen Oper Erfahrung, allerdings nicht mit der am leichtesten zu dirigierenden, „Wozzeck“. Ich zögerte, überlegte, aber nachdem ich mir gesagt hatte, dass, gemäß der kulinarischen französischen Wendung „l’histoire ne repasse pas les plats“, die Geschichte dasselbe Gericht nicht zweimal serviert, nahm ich seinen Vorschlag an, wobei mir eine gewisse Unbesonnenheit half, meine Entscheidung zu treffen. Ich hatte vor, „Wozzeck“ in seiner Inszenierung zu dirigieren, was ein Sprungbrett sein würde. Dies war unsere erste und einzige gemeinsame Arbeit. Bei „Parsifal“ wollte das Schicksal, vielmehr die Krankheit, dass ich allein arbeitete, während Wieland im Krankenhaus lag, wobei er dennoch aufmerksam die Proben verfolgte. Entweder in Briefen, oder bei meinen Besuchen im Krankenhaus, diskutierten wir die Probleme, denen ich begegnete. Diese Zusammenarbeit aus der Ferne war leider die letzte. Zu diesem Zeitpunkt lernte ich auch Wilhelm Pitz kennen, den guten Schutzgeist der Bayreuther Chöre, und im „Parsifal“ sind die Chöre weiß Gott wichtig. Was mich zutiefst beeindruckte, waren nicht nur seine beruflichen Fähigkeiten, auf die ich mich völlig verlassen konnte – was viel zu meinem Verständnis des Werkes beigetragen hat – sondern mehr noch seine allzeitige Hingabe seiner Arbeit gegenüber. In der Pause vor dem 2. Akt des „Parsifal“ probten wir die Szene der Blumenmädchen, und ich sehe ihn noch heute vor mir, in seinem weißen Kittel, einem sehr aufmerksamen Arzt in einem ausgezeichneten Krankenhausbetrieb gleich, wie er seine ganze Sorgfalt auf die Intonation, die Ausgewogenheit, die Phrasierung, den Text, die Übergänge verwandte. Es war eine mit sehr viel Gutmütigkeit erteilte Lektion des Anspruchs. Wilhelm Pitz war einer derjenigen, die mir halfen, von Darmstadt nach Bayreuth zu wechseln. In der Tat ist dies keine Selbstverständlichkeit, und warum ist das so? Wir tendieren dazu, die Welt in Kategorien, in Fächer einzuteilen, die wir am liebsten dicht voneinander abgeschottet sehen wollen, denn das erleichtert uns die Klassifizierung in Spezialisten für dieses und jenes, die kein Recht dazu haben, die anderen Spezialgebiete aufzusuchen. Dadurch, dass Wieland Wagner mich einlud, „Parsifal“ zu dirigieren, demonstrierte er deutlich den Wunsch, diese rigiden Kategorien zu brechen, und ich stimmte mit ihm in diesem Punkt völlig überein, ausgehend von seiner Arbeit als Regisseur und seinem bereits vollbrachten Werk. Das Ergebnis daraus war sehr traurig, da Wolfgang Wagner mich bat, an der Totenfeier zum Angedenken seines Bruders mitzuwirken. Ich sehe wieder die Bühne des Festspielhauses vor mir, völlig mit Kränzen beladen, die Totenmaske in der Mitte der Versammlung. Ich teilte mit Wilhelm Pitz den musikalischen Rahmen der Zeremonie; ich, indem ich sie mit dem Vorspiel von „Parsifal“ begann und er, indem er sie mit dem Schlusschor aus der Matthäuspassion beendete.

Ich glaubte, mit Bayreuth fertig zu sein. Aber da bat mich Wolfgang Wagner zehn Jahre später, über den „Ring“ nachzudenken. Sein Bruder hatte mir darüber geschrieben, aber ich glaubte, dass dies völlig in Vergessenheit geraten war, wie auch ich dieses Projekt völlig aus den Augen verloren hatte. Darmstadt war weit weg. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich in meinem Beruf gefestigt oder geglaubt zu festigen. Diesmal nahm ich mit sehr viel weniger Zögern an. Bei der Suche nach einem Regisseur, haben wir uns schließlich auf den Namen Patrice Chéreau geeinigt. Das war eine gewagte Wahl. Aber ich werde nicht noch einmal die Geschichte dieser Produktion erzählen, die man mit dem Untertitel „Vier Tage, die Bayreuth erschütterten“ hätte versehen können. Es war eine schwere Schlacht. Und ich muss sagen und wiederholen, dass diese Produktion ohne die stete Unterstützung von Wolfgang Wagner, unwandelbar, mutig, unter allen Umständen und dies trotz aller Widrigkeiten, ihr erstes Jahr nicht hätte überleben können. Wenn ich eine wesentliche Episode aus meinem Leben als Interpret auswählen müsste, würde ich ohne Zweifel diese Zeit wählen: Diese fünf Jahre bleiben eine einzigartige Erfahrung und haben auch meine Sichtweise als Komponist verändert.

Während dieser zwei Aufenthalte in Bayreuth habe ich viel gelernt, über die Musik, über das Theater, über mich selbst. Ich möchte einige Überlegungen weitergeben, die mir durch diesen längeren Kontakt mit dem Theater und Bayreuth suggeriert wurden. Zuerst, warum diese fanatische Feindseligkeit in bestimmten Kreisen, von denen man annimmt, dass sie kultiviert seien? Wenn man neu, jedoch nicht unbedingt unerfahren, ankommt, wird oft angenommen, dass es einem als Novizen an Kenntnissen, an Kultur fehlt. Man unterstellt vor allem, dass sie mit bilderstürmerischen Intentionen daher kommen, aus dem alleinigen und nutzlosen Vergnügen an der Zerstörung heraus. Kurz gesagt: Man staffiert sie mit allen Stigmen des Barbaren und Unwissenden aus. Glaubt man denn, dass wir, einem Text gegenübergestellt, ihn nicht lesen können, glaubt man denn, dass wir die Originalität auf Kosten des Textes suchen, glaubt man denn, dass wir uns selbst für wichtiger halten als den Autoren? Es gäbe viel zu diesen trügerischen Begriffen zu sagen, die die Worte Respekt und Tradition im Allgemeinen verbergen. Sich einem Text gegenüberstellen, heißt natürlich, ihn zu hinterfragen, aber nicht weniger, auch sich selbst zu hinterfragen. Das Meisterwerk existiert hauptsächlich in Verbindung mit der Zukunft, die es eventuell befruchtet hat. Was es uns unentbehrlich macht, ist das Erfindungspotenzial, das es für immer beinhaltet. Und wir Musiker sind noch viel stärker durch den musikalischen Text eingeschränkt als der Regisseur durch den Theatertext. Die Partitur gibt gewiss nicht alles an und bestimmte Dimensionen – insbesondere die der Zeit – sind starken Schwankungen unterworfen. Man braucht nur die unterschiedliche Dauer der Aufführungen in den Bayreuther Archiven nachzulesen. Aber ein Theatertext lässt unvergleichlich mehr Spielraum, ist er doch an im Wesentlichen vorübergehende Begriffe gebunden. Die Verbindung der zwei Universen, des theatralischen und des musikalischen, ist umso problematischer, je länger die Ursprungszeit zurückliegt: die Aktualität des Theaters entfernt sich schneller als die Aktualität der Musik, eben aufgrund des Unterschieds und der Qualität der Beschränkungen. Dies ist dank Wieland Wagner, Patrice Chéreau... und Richard Wagner natürlich, was ich in Bayreuth gelernt und was ich nicht vergessen habe.
Was könnte ich dem hinzufügen, außer dass ich mich sehr geehrt fühle, in der Nachfolge der Träger dieses Preises zu stehen und dass dies mir Gelegenheit gegeben hat, das so herzliche Andenken an Wilhelm Pitz in mir wieder aufleben zu lassen. Ich möchte noch eines sagen: Ich, den man dank der Überschrift eines sehr alten Interviews immer noch für den Zerstörer der Opern durch Bomben und Feuer hält, sage: Sollte auf der Erde nur ein Opernhaus erhalten bleiben, so ist es das richtig benannte Bayreuther Festspielhaus, das im Grunde genommen kein Opernhaus ist, einzigartiges Beispiel der Verschmelzung von Werk und Architektur, das ich vor meinem vermeintlichen Wüten bewahren würde. Dort habe ich die beiden Richard Wagner gewidmeten Episoden meiner Existenz geschrieben, und ich bin glücklich, dass Sie mich dank dieser zu den „Auserwählten“, insbesondere in der direkten Nachfolge von Hans Mayer, gezählt haben.

Pierre Boulez
(Übersetzung: Klaus-Peter Altekruse)

 

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