Zeitgenosse Boulez
Stefan Meuschels Begrüßungsansprache
Verehrter Herr Boulez,
sehr geehrte Anwesende,
in seinen Notaten zur Produktion der Ring-Tetralogie im Jahr 1976 schreibt Professor Pierre Boulez zur Wechselwirkung
von Gegenwart und Vergangenheit in der musikalischen Interpretation: Eine grundlegende Interpretation
der Vergangenheit kann meiner Meinung nach nur an der Gegenwart erfolgen durch den Filter eines wirklich zeitgenössischen
Denkens. Die Vergangenheit an sich ist interessant allein als hypothetische Wiederherstellung des Historischen...
Nichts ist von Dauer. Alles ist Übergang. Erregend bleibt allein die unabhängige Anverwandlung des
Vergänglichen zum Gegenwärtigen.
Bei der heutigen neunten Verleihung des Wilhelm Pitz-Preises changiert dieser letzte Satz ein wenig zwischen
Trauer und Dank, zwischen Trost und Hoffnung. Götz Friedrich, Preisträger des Jahres 1996, ist im
Dezember vergangenen Jahres gestorben. Hans Mayer, der Preisträger des Jahres 1998, im Mai dieses Jahres...
Die Träger des Wilhelm Pitz-Preises haben das Recht, der Jury Vorschläge zu den nächsten Kandidaturen
zu machen. Hans Mayer gab spontan nur einen Vorschlag zu Protokoll. Den aber vertrat er mit Vehemenz und mit
stringenter Argumentation. Götz Friedrich unterstützte ihn.
Ich kann nur spekulieren und vermuten, was der Tübinger Literaturprofessor Hans Mayer in seiner Laudatio
auf Pierre Boulez gesagt hätte. Vermutlich hätte er dem Ring des Nibelungen als dem großen deutschen
bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts seinen Platz in der europäischen Revolutionsgeschichte eingeräumt,
und anknüpfend an Pierre Boulez Bayreuther Dirigat ihm dann seinen Platz in einem weit gefächerten
Panorama französisch-deutscher Geistesgeschichte zugewiesen. Und er wäre im Zusammenhang mit Arnold
Schönbergs Moses und Aron auf einen zornigen jungen Mann zu sprechen gekommen namens
Pierre Boulez, der da gewagt hatte zu sagen: Schönberg ist tot! Um später, so Hans Mayer,
meisterliche Aufnahmen schönbergscher Werke zu dirigieren, und ich zitiere erneut Hans Mayer,
um später, wie man weiß, sogar die Burg Walhall zu besuchen...
Heitere Festlichkeit wird sich heute nur schwer herstellen lassen. Um an Pierre Boulez Wort, alles sei
Übergang, in ganz anderem Sinne anzuknüpfen: Wohin die sich immer bedrohlicher abzeichnende Sinn-,
Akzeptanz- und Finanzkrise des deutschen Stadttheaters führen wird, ist nicht abzusehen.
Wenn der deutsche Städtetag wie in der vergangenen Woche Alarm ausruft und einen Investitionsbedarf von
1,3 Billionen Mark anmeldet, dann spricht das eine deutliche Sprache. Allerdings ist bei dem Ruf nach einer
Gemeindefinanzreform kein Wort davon zu lesen, dass Kulturmittel Investitionsmittel seien und dass Kultur mehr
als nur eine freiwillige Leistung der Kommunen zu sein habe. Die Gewerkschaften werden sich in dieser Situation
ihrer kulturpolitischen Aufgabe mit Macht zu stellen und sich daran zu erinnern haben, dass ihre Ursprünge
ohne bildungs- und kulturpolitisches Fundament gar nicht denkbar sind. Wir können der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft
ver.di für ihre zukünftige Kulturpolitik nur toitoitoi wünschen.
Von den Gewerkschaften zurück zu dem Anlass unseres Beisammenseins. 1966 vertraute mir der Norddeutsche
Rundfunk die Regie eines mehrteiligen Filmes über die Geschichte der elektronischen Musik an. Die musikalische
Betreuung und damit die eigentliche Inszenierung dieses Films lag in den Händen des Münchner Komponisten
Josef Anton Riedl.
Große Partien des Filmes drehten wir in Paris in Pierre Schaeffers Studio für konkrete Musik. Riedl
wollte unbedingt Ausschnitte aus der Symphonie mécanique von Pierre Boulez für unseren
Film verwenden. Und es ging nun, wie immer in solchen Fällen, ganz nüchtern um die Frage des Rechte-Erwerbs.
Da sagte Pierre Schaeffer, das werde sicher kein großes Problem sein. Denn leider glaubt Pierre
Boulez zwar nicht an unsere Maschinen im Institut, aber er glaubt an den socialisme.
Stefan
Meuschel
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