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Verwandlung und
Kontinuität
Dagmar Ellen Fischer: Ivan Liska. Tänzer. Die Leichtigkeit des Augenblicks. 184 S., 80 farbige und S/W-Abb. Henschel Verlag Leipzig 2015, 24,95 Euro, ISBN 978-3-89487-754-5
Der Tanz gehört zu den „flüchtigsten“ Kunstgattungen. So traumhaft ein Tanzkünstler einen scheinbar endlosen Moment im Scheitelpunkt eines Sprungs in der Luft stehenzubleiben scheint: Im nächsten Augenblick ist alles vorbei. Foto und noch mehr Video scheinen da die einzig angemessenen Medien für die Lebensbilanz eines Tänzers zu sein. Doch Dagmar Ellen Fischers Buch lohnt das Lesen und Anschauen. Sie hat sowohl eine platte Hymne wie auch die öde Reihung von Erfolgen vermieden. Schon satztechnisch sind Darstellung, Lisˇka-Erzählung und Zitate voneinander abgehoben, und dieser Wechsel liest sich frisch und wirkt abwechslungsreich. Das liegt auch daran, dass der 1950 in Prag geborene Lisˇka aufgrund bildungsbürgerlicher Herkunft, sozialistischer Erziehung, Flucht 1969 und Neuorientierung im „Westen“ nie die Bodenhaftung verloren hat: Kunst, Gesellschaft, Religion und Menschenführung wirken in Blick, Haltung und Lebenspraxis immer kritisch reflektiert – nichts von künstlerischem Egozentrismus und eitel abgehobener Selbstinszenierung.
Die deutlich unterschiedliche Behandlung als „Ost-Flüchtling“ in Düsseldorf und München einschließlich der befremdlichen Begegnung mit Franz Josef Strauß, auch die Spannung zwischen Eheglück, Kindern und künstlerischer Partnerschaft mit Colleen Scott werden deutlich. Der kurze Einschnitt durch eine Rückenverletzung zeigt beispielhaft die Gefährdung in diesem Beruf. Im Zentrum stehen aber die Karrierestationen Düsseldorf, München, Hamburg und abermals München. Sie belegen tanztechnisches Wachstum, interpretatorische Vielfalt und hohe Expressivität – speziell als Erster Solist in John Neumeiers Hamburger Glanzzeit: über 50 Rollen von Theseus, Oberon, Zettel, Orpheus, Ludwig II., Armand, Gaston, Odysseus bis zu Peer Gynt neben Romeo und Onegin. Viel davon zeigen die Aufführungsfotos – mitunter so tanzdramatisch, dass man sich eine DVD „mit mehr“ dazu wünschen würde. Der Ballettomane erfährt vieles von und zu Neumeier, auch zu Hans von Manen, Jirˇí Kylián und neueren Choreografen von Forsythe über Ek zu Maliphant – da wäre ein Namensverzeichnis im Anhang zu wünschen gewesen. Nicht nur die eingefügten Zahlen beweisen dann auch Lisˇkas planerische Leistung als kunstsinniger Direktor des Bayerischen Staatsballetts seit 1998. Die tanzhistorischen Rekonstruktionen werden umrissen; die stilistische Vielfalt macht staunen; Erfolge sowie breite Nachwuchs- und Jugendarbeit beeindrucken. Ohne jegliches Auftrumpfen beweist das Buch, dass die Periode 1998 bis 2016 zu Recht als „Ära Ivan Lisˇka“ in die Münchner Ballettgeschichte eingehen wird.
Wolf-Dieter Peter |