Strawinsky
heute
Ballett-Triple am Stuttgarter Ballett
Das Wahren von Tradition, Crankos Erbe und die zukünftige Sicherung der Tanzkunst: Mit diesen Vorhaben galoppiert Stuttgarts renommierte Compagnie stetig voran im Ensemble-Parcours. Immer mit dabei: eine grandiose Auswahl von variabel einsetzbaren Tänzer-„Jockeys“. Jungen Talenten räumt Reid Anderson, Intendant des Stuttgarter Balletts, gern die Chance zur Weiterentwicklung ein. Die Herausforderung ist dabei stets gewiss. Nach Christian Spuck, der mittlerweile beim Zürcher Ballett selbst die Zügel in der Hand hält, und dem stilistischen Unikat Marco Goecke, erwies sich seit 2006 Demis Volpi im
Genre der Kurzchoreografie/Einakter als vielversprechend einfallsreicher und wandlungsfähiger Nachwuchs. Mit der Uraufführung seines abendfüllenden Handlungserstlings „Krabat“ nach Otfried Preußlers berühmtem Jugendbuch gelang dem gebürtigen Argentinier 2013 nicht nur ein Publikumserfolg, sondern auch der Sprung zum Hauschoreografen. Volpi, Goecke und Sidi Larbi Cherkaoui, ab September 2015 neuer Leiter des Königlichen Balletts in Flandern, gestalteten nun einen gemeinsamen Strawinsky-Abend in Stuttgart.
Demis Volpi: „Die Geschichte
vom Soldaten“
„Die Geschichte vom Soldaten“ mit Alicia Amatriain und Marti Fernandez Paixa. Foto: Stuttgarter Ballett
Der Künstler und seine Kreationen: Sympathieträger! Selbst wenn ausgerechnet der Jüngste im Bunde für seinen Premierenbeitrag im Stuttgarter Opernhaus mit Strawinskys „Die Geschichte vom Soldaten“ in der sprechtextfreien Suitenfassung von 1919 zum musikalisch sprödesten Vorbild des „Strawinsky HEUTE“-Abends griff. Tanz fesselt das Auge, wenn Körper und Musik symbiotisch verschmelzen. Diese Wirkung wollte Volpi brechen. Und lotete gemeinsam mit seiner Ausstatterin Katharina Schlipf die Möglichkeiten von Theaterillusion und -abstraktion leidenschaftlich aus. Gleich zu Beginn wurde das szenisch multifunktionale Set aus unzähligen Schrank- und sonstigen Koffern heftig beklatscht. Zumal darin eine 13-köpfige Wandertruppe mit viel historisierender Farbe und darstellerischem Witz sich höchst engagiert für eine Aufführung präparierte. Die finale Wiederauflösung dieses Spiels im Spiel blieb am Ende jedoch aus. Volpis Soldaten und deren Bräute, die pittoresk in aus Koffern herausgeklappten Stuben auf die Kriegsrückkehrer warten, mutierten zu bestens animierten Charaktertypen einer teuflischen Intrige, die in einem lauten, für den Hauptprotagonisten tödlichen Feuerzauber kulminierte.
Volpis diabolischer Clou: Alicia Amatriain, die – schlangengleich, mit einer Beelzebub-Maske mal in der Hand, mal vorm gehörnten Gesicht – alle Register eines ausgebufften omnipräsenten Teufels zog. Ihre Begierde nach des Soldaten Geige, Seele und Kunstfertigkeit zu spielen, gab Anlass zu einem hochkomplexen Partnering zwischen der ausdrucksstarken Ballerina und dem Eleven (!) Martí Fernandez Paixa mitsamt sperrigem Streichinstrument. Ein ideenreiches, stringent konzipiertes Experiment, das in seiner Gesamtheit nicht völlig aufging, als Versprechen eines noch jungen Choreografen aber Zeichen setzt.
Sidi Larbi Cherkaoui:
„Der Feuervogel“
Strawinsky gelang der Durchbruch 1910 mit seiner ersten Auftragskomposition zu „Der Feuervogel“ für Diaghilews Ballets Russes. Sidi Larbi Cherkaoui wählte die stimmungsvoll zwischen zarter Melodik und feurigen Passagen changierende Musik der Suite von 1919 als Inspirationsquelle für sein Debüt beim Stuttgarter Ballett: seine erste Arbeit für eine deutsche Compagnie. Der Anfang ist ein Knüller. Es sieht einfach fantastisch aus, wenn Anna Osadcenko in einem flammend roten Schleppenkleid aus dem von Willy Cessa (Bühne) in Einzelteile zerlegbaren Vulkanmassiv herausbricht. Wie eine Frau aus Lava, von Tänzern getragen, deren Lederriemen über der Brust an offengelegte Rippen erinnern. Märchenhaft, schaurig-schön. So effektvoll mit auf den Innenseiten verspiegelten, mobilen Dekorelementen in Szene gesetzt, verpasste Cherkaouis eruptiv dahinsprudelnde „Feuervogel“-Version dem heterogenen Dreiteiler einen heftig umjubelten Schlussakzent.
Sein „Feuervogel“ bezaubert aufgrund des geschmeidigen Strömens sich geradezu pausenlos überbietender Paarformationen und ausgetüftelter Hebefiguren, die sich wie Wellen im Raum auf- und wieder abbauen. Als Friedemann Vogel sich durch ein weites Hemdkostüm (Kostüme: Tim Van Steenbergen) aus dem allgemeinen Gruppengefüge löst und solistisch zu einer Art virtuosem Prinzen mausert, fallen weiße Federn vom Himmel. Das bezaubert optisch, doch insgesamt verschenkt Cherkaoui die in der Masse wie durch ein Kaleidoskop zersplitternde Brillanz der allesamt herausragenden Solisten zugunsten einer visuellen (nicht einmal so neuen) Theatralität.
Marco Goecke: „Le Chant du Rossignol“
Daniel Camargo in »Le Chant du Rossignol«. Foto: Stuttgarter Ballett
Als Auftakt stand dagegen Marco Goeckes Neufassung seiner 2009 für das Leipziger Ballett kreierten Auslegung von Strawinskys 1917 komponierter Symphonischer Dichtung „Le Chant du Rossignol“ auf dem Programm. Das Pina Bausch gewidmete Stück schält sich in scharfen, körperkonzentrierten Schattenrissen aus der für Stuttgarts Hauschoreografen typischen Dunkelheit. Inhalt ist nicht Hans Christian Andersens Erzählung, sondern Goeckes die Blicke lenkende Raumnutzung und kollektive Bewegungsdynamik: Drei Tänzerinnen und sieben Tänzer schwirren wie Vögel mit gezielten Schwüngen und smarten Sprüngen über die Bühne, pfeifen leise hinter vorgehaltener Hand und kommunizieren auch in der Umarmung so wunderbar kurios miteinander, dass man ihnen über alle furiosen, eng am Körper ausgeführten oder elegant ausgetanzten Ballettpositionen bis hin zum plötzlichen Austicken in fiebrige Flattrigkeit gerne folgt. Sobald Daniel Camargo als Vogelschwarmführer auf die von Michaela Springer (Bühne) und Udo Haberland (Licht) von der Rampe aus beleuchtete Tanzfläche schießt, entspinnt sich ein choreografisch mysteriös-rasanter Thriller, der sich letztendlich stärker einprägt als Cherkaouis in fast klassisch dominierter Manier niemals abreißender Bewegungsfluss für neun Männer und sieben spitzenschuhbewaffnete Frauen.
Vesna Mlakar
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