Klingender Horror
Gerhard Stäblers »The Colour« am Mainfranken Theater Würzburg
Aus dem Orchestergraben klingen gruselige Glissandi, ein Percussion-Gewitter wütet. Mal flüstern menschliche Stimmen, mal lassen Schreie aufschrecken. Bilder von Totenköpfen flimmern, Tierkadaver und überdimensionale Insekten schweben über durchscheinende Vorhänge. Komponist Gerhard Stäbler ist bekannt für sein Spiel mit Sinnen, seinen Tanz mit Stimmungen. Und tatsächlich gelingt es ihm mit seinem neuen Musiktheater-Werk „The Colour“, einen düsteren Alptraum zu erschaffen im Stile schwarzer Romantik. Einen Alptraum, der Fans der Fantasy- und Horrorszene ebenso ansprechen dürfte wie Freunde anspruchsvoller zeitgenössischer Kompositionen, die althergebrachte Grenzen überschreiten.
Daniel Fiolka vor dem verfremdeten Kopf des Autors H. P. Lovecraft. Foto: Falk von Traubenberg
Ende April erlebte das Publikum des Mainfranken Theaters im unterfränkischen Würzburg die Uraufführung des abendfüllenden Musiktheaters. Das Libretto stammt aus der Feder des dortigen Theaterintendanten Hermann Schneider. Als Grundlage für die Gemeinschaftsarbeit diente die Novelle „Die Farbe aus dem All“ von Howard Phillips Lovecraft – jenem amerikanischen Autor, der das Fantasy- und Horrorgenre zu Beginn des 20. Jahrhunderts maßgeblich mitprägte. In der Kurzgeschichte aus dem Jahr 1927 schlägt ein Meteorit auf der Erde ein. Aus dem Krater leuchtet Licht in Farben, die sich die Wissenschaft nicht erklären kann. Urplötzlich verändert sich alles. Tiere sterben, manche mutieren. Die Natur wächst ungewöhnlich gut, doch nichts ist mehr genießbar. Die einen Menschen verschwinden, andere werden wahnsinnig. Antworten auf aufgeworfene Fragen gibt Lovecraft ganz bewusst nicht, denn menschliche Urängste gehen gerade vom Unbekannten aus. Und genau hier setzt Gerhard Stäblers Komposition an: „Text ist Text und transportiert Inhalte. Ist ein Text gut, schwingen unausgesprochene Dinge mit. Hier kommt Musik ins Spiel“, sagt der 65-Jährige. Ein gutes halbes Jahr lang habe er zum Teil bis zu 14 Stunden am Tag an „The Colour“ gearbeitet. Der Komponist schlägt in dem Werk einen Bogen zu Schönbergs „Farben“, bezieht sich auf Robert Schumanns „Vogel als Prophet“, interpretiert und deformiert Volkslieder. Das Philharmonische Orchester Würzburg spielt unter dem Dirigat von Enrico Calesso Gruselklänge, die so im Mainfranken Theater wohl noch nicht zu hören waren. Und auch Chor und Solisten erhalten nur begrenzt die Chance zu Belcanto. Passend zum Werktitel erzeugen sie stattdessen eine Fülle an Klangfarben – flüstern, stöhnen, sprechen, singen, schreien. Zugegeben: Viele Passagen von „The Colour“ sind zwar hervorragend umgesetzt, aber anstrengend. Die Zuhörer können wie im Horrorfilm nur selten durchatmen. Doch von exakt dieser Stimmungsdichte geht der Reiz des Werks aus.
Und dafür ist nicht einmal viel Aktion auf der Bühne nötig. Das Mainfranken Theater präsentiert „The Colour“ bei der Uraufführung im Zuge der Theaterreihe „Oper konzertant“, die Sänger treten bewusst statisch auf. Ein gelungener Ansatz: Das Publikum kann sich erst gar nicht mit Charakteren identifizieren, Regisseur Hermann Schneider betont die Allgemeingültigkeit dunkler Urängste. Bewegung herrscht trotzdem auf der Bühne. Mit zahlreichen Videoeinspielungen von Falko Herold wird H. P. Lovecrafts Kurzgeschichte auf mehreren durscheinenden Vorhängen erzählt. Dadurch gewinnen Tierkadaver, Insekten, Landschaften oder auch der Blut weinende Autor Dreidimensionalität. Der Meteoritenkrater und wabernde Farblichter dominieren zudem die Bühne.
Das Publikum im Mainfranken Theater bejubelt die Uraufführung. Allerdings bleiben viele Sitzplätze im Saal von Beginn an leer – vielleicht, weil die unterfränkische Bischofsstadt doch ein bisschen zu bieder für große Experimente ist. Der Komponist Gerhard Stäbler sieht das anders – motiviert auch in Zukunft zu mutigen Inszenierungen. Sein Credo: „Man darf sein Publikum nicht unterschätzen. Das Problem vieler Orchester ist, dass sie immer ein ähnliches, klassisch-orientiertes Programm spielen. Ein Theater muss unverwechselbar sein, dann öffnet sich auch das Publikum.“
Michaela Schneider |