Interdisziplinäres
Feuerwerk
Leipziger Symposium zur Kinder- und Jugendstimme
Das Thema „Stimme – Leistung – Gesellschaft“ habe schon lange in der Luft gelegen, bemerkte Michael Fuchs, Professor für Phoniatrie und Audiologie am Universitätsklinikum Leipzig und charis-matischer Leiter des 13. Leipziger Symposiums zur Kinder- und Jugendstimme, in seiner kurzen Begrüßungsansprache. Vielversprechend war das Programm im ehrwürdigen Gebäude der Leipziger Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in der Grassistraße, vielseitig aus medizinischer, sängerischer und pädagogischer Sicht, aber auch dichtgedrängt in der Mischung von zweistündigen Workshops, 20- bis 30-minütigen Vorträgen, kurzen Podiumsgesprächen und musikalischen Impulsen.
Gleich der musikalische Auftakt im Konzertsaal mit Jeralyn Glass (Orange, Kalifornien, USA) und Christoph Weinhart (München) führte mitten in die Materie. Spritzig und witzig präsentierten die Sängerin und ihr Klavierbegleiter Lieder aus dem Great American Songbook, die wie „I am just a Broadway baby“ zum großen Teil das Singen selbst zum Thema hatten. Wenig später kehrten die beiden für ihren Workshop zurück auf die Bühne und zeigten, wie sie in der „kids4kids World Foundation“ mit Improvisation, Atemtechnik und Gesangstraining junge Sängerinnen und Sänger in selbstbewusste und selbstständige Darsteller verwandeln. Und dann entstand mit einfachen, aber durchdachten Mitteln auch ein abwechslungsreiches Arrangement von George Gershwins Song „I got rhythm“ für die Teilnehmer.
Wie sehr der Umgang mit der Stimme auch den Umgang mit dem Menschen beinhaltet, wurde immer wieder deutlich. Die Hamburger Philosophin Ina Schmidt besorgte die Einführung unter dem Thema „Auf der Suche nach der eigenen Stimme – innere Meisterschaft oder Leistung als Lebensform?“ Die Frage des rechten Umgangs miteinander wurde lebendig im Gespräch, das Barbara Haack als Mediatorin und Yoshihisa Matthias Kinoshita als erfahrener Kinderchorleiter miteinander führten. Auf das mangelnde Bewusstsein für die Stimme in Politik und Gesellschaft machte die ehemalige saarländische Gesundheitsministerin Regina Görner aufmerksam. Die Leistungsbewertung war Thema etlicher Vorträge aus verschiedenen Blickwinkeln, und auch die Leipziger HNO-Klinik brachte sich mehrfach ein. Besonders Fuchs‘ Vortrag über eine laufende Studie zu auditiven und stimmlichen Fähigkeiten bei Leipziger Grundschulkindern verspricht auch musikpädagogisch spannende Ergebnisse.
Inwieweit die zunehmende Leistungsorientierung der Gesellschaft der Stimme und dem Selbstbild von Kindern und Jugendlichen zuträglich ist, ist eine spannende Frage. Wirklich befriedigende Antworten blieben aus. Der eigentlich zentrale Vortrag des Leipziger Psychiaters und Psychotherapeuten Michael Kroll wurde im engen Zeitraster selbst zum Opfer der zitierten Tendenz zur Beschleunigung. Zu spät kam im Anschluss die Einsicht des Tagungsleiters: „Wir müssen diesem Thema mehr Zeit einräumen.“ Dass viele Kinder und Jugendliche mit den Leistungsanforderungen in renommierten Ensembles gut zurechtkommen, zeigten die Beispiele aus der Praxis. Der MDR-Kinderchor bestritt ein souverän vorgetragenes, ansprechendes und vielseitiges Abschlusskonzert, nachdem sein Leiter Ulrich Kaiser zuvor unter dem Titel „Ringelpiez oder Leistungsdruck?“ sehr lebendig über die gemeinsame Arbeit berichtet hatte. Die Knaben des Staats- und Domchores Berlin zeigten mit ihrem Leiter Kai-Uwe Jirka und ihrer Stimmbildnerin Judith Kamphues Ausschnitte aus dem auch inhaltlich anspruchsvollen Programm „Ich bin der Wind – Kinderlieder von 1750 bis heute“ und ließen sich zu ihrer Arbeit befragen.
Einen interessanten Kontrapunkt zu deutschen Erfahrungen bot Ronny Krippner mit seinem Beitrag über die Ausbildungs- und Arbeitsstrukturen in der englischen Knabenchor-Tradition. Fast täglicher Chordienst im Even-Song, eine enorme Repertoirebreite, Routine im Blattsingen, aber auch Beschränkung auf die Sopranstimme (mit Erwachsenen in Alt, Tenor und Bass), vierteljährliches Chorgeld als Anerkennungshonorar, das Chorsingen als gesellschaftliche Aufstiegschance in der englischen Klassengesellschaft, viele Sänger mit Migrationshintergrund, aber auch die privat zu bezahlende Behandlung durch den Hals-Nasen-Ohrenarzt – hier tat sich für den Großteil des Publikums eine ganz andere Welt auf. Frappierend war, was Marguerite Dunitz-Scheer aus ihrer Doppelrolle als Professorin an der Psychosomatischen Abteilung der Kinder- und Jugendheilkunde am Universitätsklinikum Graz und als ehrenamtliche Opernregisseurin am Grazer „Next Liberty Theater für junges Publikum“ zeigen konnte: Dieselben jungen Patienten und Patientinnen, die man auf Station als offensichtlich krank erlebt, wirken auf der Bühne vital und gesund. Nicht jeder aber hat diesen interdisziplinären Blick. Und so fehlte es dann am Ende nach einem interdisziplinären Feuerwerk doch an einer Bündelung und einem Impuls für die Zukunft. Schön wäre es, die Veranstalter – neben dem Universitätsklinikum und der Hochschule auch der Arbeitskreis Musik in der Jugend und der Bundesverband Deutscher Gesangspädagogen – würden sich für das nächste Symposium zum Thema „Die Pädagogenstimme“ dazu eine Strategie überlegen.
Andreas Hauff |