Solidarität – und ihre Grenzen
Solidarität ist bekanntlich seit jeher einer der wesentlichen Erfolgsfaktoren gewerkschaftlichen Kampfes: Nicht der Einzelne versucht, mit dem angesichts der jederzeitigen Ersetzbarkeit (fast) jedes Arbeitnehmers marktübermächtigen Arbeitgeber seine Beschäftigungsbedingungen festzulegen, sondern eine wie auch immer zusammengesetzte Gruppe, die – durchaus unter Inkaufnahme vorübergehender individueller Nachteile – jedenfalls gemeinsam auf dem Arbeitsmarkt die Macht hat, durch Drohung mit kollektiver Arbeitsverweigerung genau die Ersetzbarkeit, die dem Arbeitgeber seine Macht gibt, zu durchbrechen und damit seine Profiterwartung, die natürlich (auch) auf den Faktor Arbeit angewiesen ist, zu gefährden.
Solidarität ist aber auch darüber hinaus eines der prägenden Strukturprinzipien menschlicher Gesellschaften: Grundlage ist die Erkenntnis, eigene Interessen erheblich wirkungsvoller durchsetzen zu können, wenn man sich mit anderen zusammentut, die gleichgerichtete Interessen haben. Beispiele hierfür reichen von den Staatsvertragstheorien der frühen Neuzeit bis zum Generationenvertrag der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung. Im wirklichen Leben ist Solidarität dabei viel öfter auf gemeinsame Interessen als auf gemeinsame (ideelle) Werte gegründet. Es ist daher sehr problematisch, sie als „Wert an sich“ zu betrachten.
Solidarität ist oft nicht nur ein Füreinander. Sie findet nicht nur immer ihre immanenten Grenzen, nämlich da, wo die Gemeinsamkeit der Interessen aufhört bzw. andere individuelle Interessen von Mitgliedern der Solidargemeinschaft als vorrangig betrachtet werden. Sie kann auch ausgrenzend wirken, nämlich insbesondere gegenüber denjenigen, die – wirklich oder vermeintlich – andere oder gar entgegenstehende Interessen haben. Dies kann verheerende Folgen haben. Schlimmstes Beispiel: Der Genozid durch die Nationalsozialisten wäre ohne die manipulativ beschworene „Volksgemeinschaft“ und ihre Feindbilder in dieser Form nie möglich gewesen.
Das Fehlen von Solidarität ist ebenfalls oft fatal: Die Weigerung weiter Teile der Bevölkerung Griechenlands, im Interesse des Gemeinwesens Steuern zu zahlen, ist eine wesentliche Grundlage der Finanzmisere des Landes, ohne deren Beseitigung eine Gesundung nie möglich sein wird.
Der Solidarität wohnt leider auch eine Tendenz zur – oft zwangsweisen – Gleichschaltung des Denkens inne: Gerade vorgeblich dem Menschen dienende Systeme haben sich gerade in Deutschland wiederholt zum Gegenteil entwickelt – mit Einheitsparteien und Einheitsgewerkschaften, die naturgemäß nur allzu leicht zum Spielball nur ihrer eigenen Macht verpflichteter und dabei den Solidaritätsgedanken schamlos missbrauchender Despoten wurden.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Solidarität zwischen dem ach so freien Deutschen Gewerkschaftsbund und dem Dachverband der Arbeitgeber in der Frage der so genannten Tarifeinheit eine eigene Bedeutung – Zielrichtung: den ohnehin schon Mächtigen soll wirklich alle Macht zukommen; alle anderen, insbesondere Minderheiten und Randgruppen, sollen sich unterordnen – bis hin zur Zerschlagung ihrer grundgesetzlich verbrieften Organisationen. Die schwarz-rote Einheitsregierung macht das Spiel in einer geradezu beeindruckenden Blindheit gegenüber dem Grundrechtskatalog unserer Verfassung und den Erfahrungen aus unserer jüngsten Geschichte willig mit.
Es ist hier kein Raum, das vielbeschworene Spannungsfeld zwischen Gleichheit und Freiheit zu durchleuchten; der bekannte Satz der Gleichheitskämpferin Rosa Luxemburg von der Freiheit der Andersdenkenden erhält hier aber neues Gewicht. So lebenswichtig in einer globalisierten Welt eine globale Solidarität ist, so darf sie – im Großen wie im Kleinen – nicht die Freiheit des Denkens überrollen. Und darin, dieses Ziel zu bedrohen, gleichen sich TTIP und Tarifeinheitsgesetz ebenso wie die sie vorwärts treibenden Institutionen.
Tobias Könemann
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