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Vom Tänzer zum Therapeuten

Thierry Paré im Gespräch mit Malve Gradinger

Eine Tänzerkarriere ist mit Anfang, Mitte Dreißig auf dem künstlerischen Höhepunkt – und, tragischerweise, dann meist auch schon zu Ende. Zu diesem Zeitpunkt die bange Frage: Was jetzt? Wer eine pädagogische Begabung hat, kann, bei günstigen Aussichten, ins Lehr- oder ins Ballettmeisterfach wechseln. Der Franzose Thierry Paré, in den 1980er-Jahren Solist des auch als Choreograf renommierten Ballettchefs Erich Walter an der Deutschen Oper am Rhein, findet eine neue Berufung: Er schult um zum Therapeuten, macht zusätzlich eine Osteopathie-Ausbildung – und praktiziert seit 1992 als selbständiger Physiotherapeut in München. Für die körperlichen Probleme und Verletzungen von Tänzern hat er selbstredend ein besonders gutes Auge und Gespür. Nicht zuletzt auch, weil er, nach 13 Jahren „Abstinenz“ wieder konkret zum Tanz zurückgekehrt ist: Zweimal in der Woche unterrichtet er in den Münchner Performing Arts Studios Klassisch II. Und seit 2001 ist er bereits in vier Produktionen von Yvonne Pougets freier Butoh-Tanzgruppe aufgetreten. Malve Gradinger sprach mit Thierry Paré über die Berührungspunkte der beiden Beruf(e)ungen.

Malve Gradinger: Als Tänzer hatten Sie selbst mehrmals mit Masseuren, wegen einer Knieverletzung auch mit Krankengymnasten zu tun...

 
Tänzer, Pädagoge und Therapeut: Thierry Paré. Foto: Privat
 

Tänzer, Pädagoge und Therapeut: Thierry Paré. Foto: Privat

 

Thierry Paré: Ja, und die Entdeckung des Körpers, aber diesmal aus wissenschaftlicher Sicht, hat mich schon damals fasziniert. Therapeuten betrachten den Menschen anatomisch, physiologisch und biomechanisch. Ich frage meine Patienten auch nach ihrer Arbeitsweise, ob sie genug Schlaf kriegen, wie sie sich ernähren. Ich bin zwar kein Ernährungswissenschaftler, aber ich weiß genug, um auf Defizite aufmerksam zu machen. Man muss auf jeden Fall von verschiedenen Seiten her versuchen, die Ungleichgewichte im Körper herauszufinden, um die Probleme eines Patienten zu lösen. Ganz wichtig ist auch die Kondition.

Gradinger: Müsste doch eine Selbstverständlichkeit sein...

Paré: Vielen Tänzern ist das nicht so bewusst. Sie meinen, Training reicht. Aber es ist doch so: In einem Klassisch-Training von eineinhalb Stunden hast du Übungen von dreiviertel Minuten, für die du eine explosive Kraft brauchst. Da man in zwei Gruppen arbeitet, hast du aber nach jeder Übung eine Pause von anderthalb oder zwei Minuten, in denen die andere Gruppe an der Reihe ist. Sicher sind die Exercicen anstrengend, und ein Profi schafft sie auch. Das ist aber noch keine Aussage über seine tatsächliche Kondition. Die kriegt man durch Ausdauersport wie Nordic Walking, Joggen oder Radfahren. Und wenn man energetisch nicht hundertprozentig fit ist, kann bei einer kraftheischenden Sprungkombination, aber auch schon bei einer vielleicht nur schrittmäßig etwas komplizierten Bewegungsfolge leicht etwas passieren.

Gradinger: Zum Beispiel eine Knieverletzung. Wie wird da therapeutisch behandelt?

Paré: Man muss natürlich das Knie kräftigen, mit Übungen wie Beugen und Strecken. Man kann mit einer Gewichtsmanschette arbeiten oder auch ins Sportstudio gehen. Das ist auch in Ordnung, denn man muss geschwächte Muskeln aufbauen. Aber das reicht nicht.

Die betreffenden Muskeln müssen in Verbindung gesehen werden mit anderen Muskeln, müssen also eingepasst werden in ein komplexes Bewegungsmuster. Anders gesagt: Man muss versuchen, den Verletzten muskulär zu stabilisieren. Und eben nicht nur in dem instabilen Bereich, sondern in der gesamten Muskelkette.

Gradinger: Können Sie das noch an einem anderen Beispiel erläutern?

Paré: Nehmen wir die Arabesque: eine Position auf einem Bein. Das andere, das Spielbein, ist nach hinten gestreckt gehoben, idealerweise im 90-Grad-Winkel. Bewirkt wird die Arabesque jedoch auch durch die Gegenspannung im senkrecht gehaltenen Torso, vor allem aber durch das Becken und das unmittelbar vom Becken aus kontrollierte Standbein. Die seitliche Beckenmuskulatur muss eine entsprechende Spannung haben, damit die Arabesque überhaupt funktioniert. Das heißt, eine ganze Muskelkette ist involviert.

Gradinger: Und die Wirbelsäule...

Paré: Die Wirbelsäule ist das A und O, das Zentrum des Körpers – da, wo die Entwicklung des Säuglings beginnt. Und wenn bestimmte Entwicklungsstufen nicht gut gelaufen sind, wird erst die Statik und in Folge auch die Dynamik leiden. Bei allen Patienten muss man zuerst einmal einen Befund von der Wirbelsäule haben. Besteht eine Hypermobilität, muss man stabilisieren, bei einer Versteifung versucht man zu mobilisieren. Und dann natürlich das Becken. Wenn zum Beispiel die Beine ungleich lang sind, dann ist das Becken schief: Ein Gelenk ist höher und eines tiefer. Das ist häufig der Fall, wenn auch meist nur in einem sehr geringen Ausmaß. Trotzdem wirkt sich diese Verdrehung des Beckens auf die Wirbelsäule aus.

Krankengymnast und Pädagoge

Gradinger: Apropos Gelenke. Schwache Fußgelenke sind ein großes Problem für Kinder, die tanzen wollen. Was kann der Therapeut da tun?

Paré: Schwache Gelenke bedeutet: ausgeleierte Bänder. Da muss der Pädagoge darauf achten, dass der Schüler nicht forciert, also nicht die ideale Auswärtsstellung der Füße von etwa 160 bis 170 Grad einnimmt. Die Füße dürfen dann eben nur ein etwas flacheres „V“ bilden, damit die Fußgelenkbänder nicht allzu sehr belastet werden. Unwissende oder vielleicht auch nachlässige Pädagogen haben früher die Kinder in die erste Position gezwungen. Und wenn diese Position nicht richtig, also schon vom Becken her mit Auswärtsdrehung ab dem Beinansatz gearbeitet wird, stehen die Kinder auf der Innenkante der Füße. Die andere Sache ist die, dass Pädagogen mit 20 Schülern nicht auf jeden einzelnen achten können. Oder auch, dass die Schüler vielleicht mal eine andere Stimme hören müssen, damit die Korrektur im Kopf auch ankommt. Mit Ballettschülern, die zu mir geschickt werden, mache ich Übungen wie in einer Ballettstunde, sehe aber als Krankengymnast vielleicht etwas, was dem Pädagogen nicht aufgefallen ist.

Gradinger: Und welche Übungen zur Stärkung gibt es? Wiederholte „Relevés“, das Hochdrücken aus der ersten Position im „Plié“, also mit leicht gebeugten Knien, hoch auf die halbe Spitze?

Paré: Das ist eine Möglichkeit. Aber man kann den Patienten auch erst einmal auf einem Bein stehen lassen, was überhaupt nicht leicht ist. Ich sehe wirklich selten Menschen, die auf einem Bein hundertprozentig stabil sind. Bei einer chronischen Arthrose entsteht im Lauf der Zeit eine Verlagerung der Symmetrie, weil der Körper permanent versucht, das Defizit auszugleichen. Ein so Betroffener kann auf einem Bein kerzengerade stehen. Steht er auf dem anderen Bein, erkennt man ein ganz leichtes Zittern, ein kaum merkliches Vibrieren, das verursacht wird durch den anhaltenden Versuch, gerade zu bleiben. Ich schaue dann, wie ich die Statik verbessern kann.

Gradinger: Kann man gegen Verletzungen vorbeugen?

Paré: Es wird immer Verletzungen geben. Aber natürlich ist ein Körper, der in seiner Gesamtheit gut trainiert ist, weniger anfällig. Mein Rat wäre für Tänzer, Sportler, für jeden, der fit bleiben will: regelmäßiges Trainieren im Sinn von Kräftigung und Dehnung, ohne dass man übertreibt. Und zwar aufbauend eher drei bis vier Mal die Woche, erhaltend zwei bis drei Trainings pro Woche. Wichtig dabei ist, nicht monatelang, jahrelang dieselben Übungen zu machen. Ein Stamm von Grundübungen ist die Basis. Darüber hinaus braucht es Variation und Abwechslung, sonst ermüdet das gesamte System. Es wird muskulär weniger passieren ab dem Moment, wo du immer dasselbe machst. Man rät sogar Joggern, nicht immer die gleiche Strecke zu laufen. Ich weiß auch nicht, wie genau das im Körper abläuft. Man hat jedenfalls festgestellt, dass bei immer gleichem Training, gleichem Parcours die Leistung abnimmt. Das Gehirn verlangt offensichtlich immer mal wieder einen neuen Anreiz.

Anatomie und Biomechanik

Gradinger: Nebenbei unterrichten sie noch, Profis und Amateure...

 
Thierry Paré mit Schülerinnen in den Performing Arts Studios in München. Foto: Performing Arts Studios
 

Thierry Paré mit Schülerinnen in den Performing Arts Studios in München. Foto: Performing Arts Studios

 

Paré: Oberstes Gebot für mich: Respektiere den Körper, mit dem du zusammenarbeitest. Bei einem Profitänzer verlangt man natürlich, nur zum Beispiel, die exakte Arabesque. Bei Amateuren schaut man, was der Körper sich noch erlauben kann. Deswegen ist es heute wichtig für jeden Pädagogen, dass er ein vertieftes Wissen über Anatomie und Biomechanik hat. Die Orthopädin Liane Simmel (tanzte selbst und studierte parallel Medizin, die Red.) hat vor zehn Jahren die Tanzmedizin initiiert. tamed ist heute eine Vereinigung von Orthopäden, Krankengymnasten, Osteopathen, Masseuren, Therapeuten für Feldenkrais, für Mikrokinesie. Jeder hat sein eigenes Konzept, aber man muss wissen, wo es innerhalb des Ganzen steht und was anderen auch tatsächlich helfen kann. Ein Masseur, der begeistert arbeitet und sich Gedanken macht, wie er dem Patienten am besten helfen kann, der auch therapeutische Maßnahmen anwendet, Dehnungen zum Beispiel, der kann vielleicht mehr bewirken als ein weniger engagierter Therapeut oder Osteopath. Übrigens gibt tamed in Veröffentlichungen, Seminaren und Workshops an interessierte Pädagogen und Tänzer gesammelte Erkenntnisse weiter, von der Anatomie über Konditionstraining bis hin zur Ernährungswissenschaft.

Gradinger: Sie wurden von Solange Golovine in Paris ausgebildet. Die Tochter eines russischen Emigranten und einer Französin tanzte in den 1950er-Jahren, wie ihr damals international berühmter Bruder Serge Golovine, im renommierten Grand Ballet du Marquis de Cuevas, hat danach in ihrer Pariser Akademie viele namhafte Tänzer ausgebildet. Was haben Sie von ihr mitbekommen?

Paré: Solange war von früh bis abends spät im Studio. Nur eine Stunde Mittagspause zum Essen im Café Georges V gegenüber. Jeden Tag, plus im Sommer die Intensiv-Workshops. Solange hat immer ermutigt. Und wenn ihre Schüler es nicht geschafft haben, war es für sie eine Katastrophe... Ich möchte wie sie im Unterricht für jeden da sein. Mich dabei fast bedanken, dass die Schüler, die Teilnehmer mitmachen, dass sie alles geben. Denn Ballett ist nun einmal ungeheuer anstrengend. Und wenn jemand in der Stunde das Gefühl hat, dass der Lehrer ihn nicht beachtet, dann wird er auch keine Fortschritte machen.

Thierry Paré

  • Geb. am 25.11.1960 in Saint-Quentin
  • Schulabschluss mit Abitur 1978.
  • Ab 1978 Ausbildung in Paris zum klassischen Balletttänzer an der „Académie Solange Golovine“
  • 1981 Engagement als Gruppentänzer an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf
  • 1983 Ernennung zum Solotänzer
  • Zusammenarbeit mit vielen Choreografen wie Erich Walter, Jirí Kylián, Hans van Manen, Heinz Spoerli, István Herczog, Jean Golovine, Paolo Bortoluzzi….
  • Seit 2001 regelmäßige Zusammenarbeit mit der Choreografin und Butoh-Tänzerin Yvonne Pouget
  • Seit 1992 selbständiger Physiotherapeut ? 1998 Ausbildung für Osteopathie am College „Sutherland“
  • Seit 2010 Tanzpädagoge in den Münchner Performing Arts Studios

 

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