Fächerübergreifende Ausbildung
Jan Broeckx, neuer Leiter der Münchner Ballett-Akademie · Von
Malve Gradinger
Ab dem kommenden Semester steht der gebürtige Antwerpener
Jan Broeckx an der Spitze der Ballett-Akademie der Münchner
Hochschule für Musik und Theater. Broeckx‘ Karriere
begann 1978 im Ballett von Flandern. 1981 wurde er Erster Solist
an der Deutschen Oper Berlin. 1984 wechselte er an die Bayerische
Staatsoper und war ab 1986 führender Ballerino in der Marseiller
Compagnie des berühmten Roland Petit. Der 49-jährige
Broeckx, der den Briten Robert North nach dessen dreijähriger
Leitung ablöst, macht ganz den Eindruck eines resolut einsteigenden
Direktors. Malve Gradinger sprach in den Trainingsräumen der
Ballett-Akademie mit dem neuen Akademie-Chef.
Malve Gradinger: Viele Münchner erinnern
sich an den feingliedrigen, federleichten Jan Broeckx. Unter Ballettchef
Ronald Hynd waren Sie hier von 1984 bis 1986 Erster Solist. Kamen
auch nochmal kurzzeitig
unter Konstanze Vernons Leitung zurück. Warum wechselten Sie
zu Roland Petit?
Jan Broeckx: Petit ist eben nicht
nur Leiter gewesen, sondern auch Choreograf, der für seine
Tänzer kreiert. Seine Pas de
deux sind zum Träumen schön. Außerdem kann er stilistisch
alles, vom Klassischen und Modernen bis zu Musical und Showtanz.
Bei ihm muss man sich ganz schnell bewegen. Hohe Sprünge gibt
es in seinen Choreografien wohl auch, aber insgesamt gleitet man
mehr über den Boden. Sein Stil erfordert eine extrem starke
Technik, aber zugleich wollte Petit vor allem Ausdruck. Das alles
hat mich angezogen – und natürlich auch seine Welttourneen.
Ich habe dann ja in den 15 Jahren bei ihm auch alle seine Ballette
getanzt. Gradinger: Haben Sie dort auch
pädagogische Erfahrungen gemacht?
Broeckx: In Petits letzten Leitungsjahren
habe ich schon in seiner Schule die Männerklasse unterrichtet:
Pas-de-deux-Training und Repertoire. Ich wurde dann sein Assistent,
lernte alle seine
Ballette und habe sie später als Freischaffender autorisiert
in anderen Compagnien einstudiert. Danach war ich ein paar Jahre
Ballettmeister, an der Mailänder Scala und bei Heinz Spoerli
in Zürich. Gradinger: Was kann man von Heinz
Spoerli lernen?
Broeckx: Herr Spoerli ist ein Direktor
mit einer eisernen Hand. Er hat ein gutes, ein unmittelbares Gespür, welche Qualitäten
die Tänzer, die sich bei ihm vorstellen, mitbringen. Und das
Gleiche gilt für seine Assis-tenten, denen er Freiraum lässt.
Beim Choreografieren vermittelt er Ideen, aber seine Assistenten
dürfen, ja sollen mitdenken, durchaus auch selbst mitentwickeln.
Er versteht es, sich Talente heranzuziehen.
Gradinger: Talente heranzuziehen
ist ja auch Ihre Aufgabe. Wie ist denn Ihre Begabung entdeckt worden?
Broeckx: Mein Zwillingsbruder Wim
und ich waren sehr schmal gebaut. Der Arzt meinte, Ballett sei
gut für unsere körperliche
Entwicklung. Und da meine Mutter Lehrerin in der Grundschule war,
die in Antwerpen glücklicherweise mit der Ballettschule zusammengeschlossen
ist, war es einfach für uns, mit dem Tanzen zu beginnen.
Gradinger: Womit wir beim aktuellen
Thema wären...
Broeckx: Genau. Solch einen Zusammenschluss
von Ballett-Akademie und allgemeiner Schule sehe ich auch für die Zukunft in München.
Mein Ziel ist es, nicht nur gehorsame Körperinstrumente heranzubilden,
sondern mitdenkende Tänzer. Fächer wie Geschichte, Kultur-
und Musikgeschichte, Anatomie sind wichtig. Und alle modernen und
zeitgenössischen Stile. Natürlich geht das nicht von
heute auf morgen. Ich denke an eine Sportschule, für Ballett,
aber auch für Fußball, Basketball, Turnen. Das Marseiller
Modell ist da mein Vorbild. Dort gehen die Kinder in der Frühe
in die Schule, werden von Bussen zum Ballettunterricht gebracht
und dann wieder zurück zur Schule. Ähnliches plane ich
mit unserem Projekt „Kunst trifft Sport“, so dass sich
der Ballettunterricht nahtlos anschließen kann. Die Eltern
müssen sich an dem Projekt finanziell beteiligen, aber mit
einem nur geringen Beitrag. Gradinger: Insgesamt viele Vorhaben,
für die man aber Geld
braucht...
Broeckx: ...das ewige Problem.
Wir müssen versuchen, eine
Stiftung zu gründen oder einen Freundeskreis. Die Ballett-Akademie
ist ja nicht identisch mit der Heinz-Bosl-Stiftung, auch wenn das
durch Konstanze Vernons frühere Doppelleitung für Außenstehende
so aussah. Die Bosl-Stiftung ist nur ein Geldtopf. Und ohne diesen
sind wir, die Akademie, völlig nackt. Wir haben kein Budget,
um Talente zu fördern, kein Repertoire, nicht mal Kostüme.
Gradinger: Was macht Konstanze Vernons
Bosl-Stiftung ohne die Akademie-Studenten? Broeckx: Möglicherweise andere Projekte. Aber wir sind im
Gespräch... Erst einmal werden die „Bosl-Matinéen“ so
weiterlaufen.
Gradinger: Not soll ja erfinderisch
machen...
Broeckx: Auf jeden Fall. Wenn zum
Beispiel ein Assistent von Jiri Kylián oder von William Forsythe im Staatsballett ein Stück
einstudiert, könnte unsere Abschlussklasse dabei zuschauen.
Oder der Assistent kommt zwischendurch für einen Workshop
zu uns. Dann wären die Kosten für uns nicht so hoch.
Und warum könnten Mitglieder vom Gärtnerplatz-Tanztheater,
die sich choreografisch ausprobieren wollen, das nicht mal mit
unseren Studenten versuchen? Auch die Münchner Ballett- und
Tanzschulen möchte ich kennenlernen. Vielleicht entdecke ich
da Begabungen. Oder unsere Studenten können dort zu reduzierten
Kursgebühren Körpertechniken wie Pilates, Gyrotonics
und Männerkrafttraining machen, Angebote, die wir leider „noch“ nicht
in unserem Stundenplan haben. Ich halte es für grundlegend,
dass die Studenten die Möglichkeit bekommen, sich mehr über
ihren Körper zu informieren, vor allem auch darüber,
wie man Verletzungen vorbeugen kann.
Gradinger: Erstrebenswert ist sicher
auch, dass die Akademie zu einer stilistisch einheitlichen Linie
findet. Ensembles wie das
Londoner Royal Ballet, das Ballett der Pariser Oper, das Moskauer
Bolschoi und das St. Petersburger Mariinsky-Ballett haben ja ihren
Weltruf, weil sie vorrangig Tänzer aus den angegliederten
Schulen rekrutieren und dadurch ihre individuelle Stil-Kultur pflegen
können.
Broeckx: Das ist auch meine große Zukunftsvision. Ich möchte
den Waganowa-Lehrplan der St. Petersburger Waganowa-Schule einführen.
Mit den Lehrern stilistische Details genau besprechen. Die Basis
dafür wiederum ist die Fortführung der Pädagogen-Ausbildung,
die Frau Vernon vor Jahren initiiert hat. In Zukunft müssten
wir fähig sein, unsere eigenen Lehrer auszubilden. Man muss
jetzt versuchen, ein Team zu formen, das zehn, fünfzehn Jahre
zusammenarbeitet. Und jeder im Team soll Ideen einbringen, Kritik üben
dürfen, aber auch Kritik annehmen. Malve Gradinger
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