Niedliche Ratten in Bayreuth
Neue „Lohengrin“-Inszenierung von Hans Neuenfels · Von
Juan Martin Koch
Im Großen und Ganzen haben die Labormitarbeiter ihre Versuchstiere
ja im Griff. Aber als Ratte Nummer 79 ein Messer gegen König
Heinrich erhebt, kann sie erst im letzten Augenblick am Meuchelmord
gehindert werden, und später müssen zwei flüchtige
Nager per Injektion sediert werden, was freilich nicht den erwünschten
Effekt hat: Sie fallen über ihre Aufseher her, um sich nach
erfolgreicher Attacke wie Sportler abzuschlagen.
Kein Zweifel: Hans Neuenfels hat es wieder einmal geschafft, die
Opernkulinarier ordentlich aufzumischen. Diesmal hat es die Wagnerianer
erwischt. Dass das Volk von Brabant aus Ratten besteht, könnten
sie in dieser zweiten Bayreuther „Lohengrin“-Vorstellung
vom 3. August vielleicht noch verschmerzen, dass diese aber über
weite Strecken weder bedrohliche Monster noch Mitleid erregende
Kreaturen sind, sondern mit skurriler Kinderbuch-Niedlichkeit über
die Bühne trippeln, bringt sie bei jedem Auftritt aufs Neue
zur Weißglut. Wo kämen wir schließlich hin, wenn
im „Lohengrin“ gelacht würde? Genau das passiert
aber, wobei das Publikum zwischen Befreiung und schlechtem Gewissen
schwankt.
Dieser Schwebezustand ist zugleich Stärke und Schwäche
der Neuenfels’schen Provokation. Nie kommt der Eindruck auf,
die Rattenmetapher und damit der Charakter der Versuchsanordnung
sei der alleinige Schlüssel zu seiner Interpretation. Das
nimmt ihr die Bedeutungsschwere, gleichzeitig fehlt aber eine wirklich
zwingende Bindung zu seiner sehr genauen Analyse der Personenkonstellationen.
Zwar begnügen sich zu Elsas Nothelfervision alle gemeinsam
mit dem starren Blick in den beleuchteten Zuschauerraum und sind
dann mit ihr darüber erschrocken, dass aus dem Bühnenhintergrund
tatsächlich ein ansehnlicher junger Mann samt Schwanensarg
geschritten kommt; wer ihr aber die – vielleicht auch als
Schutz nach außen wirkenden – Pfeile verpasst hat,
die sie sich von Lohengrin nur ungern und unter heftigen Schmerzen
entfernen lässt, bleibt nebulös.
So kulminiert Neuenfels’ Regiearbeit nicht in den köstlichen
Pfötchenwink-Momenten, die von den stimmlich überragend
disponierten und szenisch fabelhaft agilen Festspielchor-Ratten
mit erhabenem Gesang überwölbt werden – Dirigent
Andris Nelsons schlägt dazu einen passenden, Weber’sches
Brio atmenden Tonfall an. Und sie erschöpft sich auch nicht
in den dekorativen Tableaus, wenn dem Volk bei repräsentativen
Anlässen erlaubt wird, die Rattenkostüme an die nach
oben schwebenden Haken zu hängen, wobei freilich prägnante
Tiermerkmale zurückbleiben. Entscheidend sind die genau durchgestalteten
Duettszenen.
Dass sich im Glas von Elsas Schwanenvitrine, wo Ortrud den Keim
des Misstrauens sät, Nelsons Dirigierbewegungen spiegeln,
ist nur konsequent. Ebenso prägend wie Neuenfels’ Personenregie
und Reinhard von der Thannens luzides Bühnen- und Ausstattungskonzept
ist hier die für ein Bayreuth-Debüt erstaunlich souveräne
Gestaltungskraft des jungen Letten, mit denen dann im Brautgemach
auch die gesangliche Charakterisierung mithalten kann. Jonas Kaufmanns für Apologeten eines ungekränkelten
Heroentimbres beinahe zu verhangene Tongebung, sein oft riskantes
Zurücknehmen in die mezza voce, zeitigt hier – wie auch
in der Gralserzählung – in Verbindung mit der intensiven
Darstellung ein nicht bloß vordergründig beeindruckendes,
sondern nachdenkliches Rollenporträt. Auch Annette Dasch,
bei der ansonsten leider eine monochrome Mittellage und deklamatorische
Probleme vorherrschen, hat im dritten Akt mit intensiv aufsteigenden
Leuchtfeuern und sensiblen Reaktionen auf den Tenorpartner ihre
besten Momente. Die gesanglich makelloseste Phrase gelingt dem
eminenten Sängerdarsteller Georg Zeppenfeld als König
Heinrich, Heerrufer Samuel Youn ist stimmlich ebenfalls auf der
Höhe der Partitur, wohingegen Hans-Joachim Ketelsens Telramund
kaum mehr als akzeptabel und Evelyn Herlitzius’ das Unheil
förmlich herbeitremolierende Ortrud nur in Verbindung mit
der beachtlichen Bühnenpräsenz zu ertragen ist.
Am Ende schmückt sie sich mit den Resten von Elsas schwanengefedertem
Brautkleid, während dem Erlösungsei ein grausliger Embryo
entsteigt, der seine Nabelschnur in handlichen Würstchen-Portionen
unters Volk wirft. Das hat mittlerweile die Rattenuniformen gegen
Anzüge aus dem Lohengrin-Fanartikel-Shop getauscht.
Anregender als diese kurzweilige, aber (noch) nicht konsequent
zu Ende gedachte Desillusionierung verlief die Wiederbegegnung
mit Stefan Herheims „Parsifal“. Vor allem im zweiten
Akt – auch sängerisch dank eines sich hörbar auf
diese Momente konzentrierenden Christopher Ventris in der Titelpartie
und des beachtlichen Bayreuth-Debüts Susan Macleans als Kundry
auf hohem Niveau – entwickelt die Überblendung von deutscher
Geschichte und Aspekten der Rezeption echte musikdramatische Wirkung.
Erfreulich auch, dass sich die Sparte „Wagner für Kinder“ etabliert
hat. Angesichts des stellenweise durchaus Theaterzauber entfaltenden,
insgesamt aber dramaturgisch wackeligen „Tannhäusers“ ist
hier zwar noch Luft nach oben, das gute musikalische Niveau und
die liebevolle Ausstattung zeigten aber den Willen, die Zukunftsaufgabe
ernst zu nehmen.
Juan Martin Koch
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