|
Das Kölner Schauspielhaus wird nun doch
nicht abgerissen. Diese Nachricht verdanken wir nicht der Ein-
oder gar Weitsicht der politisch Verantwortlichen, sondern einem
Bürgerbegehren, dem sich die Politik letztlich widerwillig
gebeugt hat.
Im Frühjahr war plötzlich ein neuer
Bundespräsident zu wählen. Zur Wahl stand unter anderem
eine hoch profilierte Persönlichkeit, die einen entscheidenden
Schritt der deutschen Geschichte maßgeblich mit geprägt
hat und in Umfragen bis zu 70 Prozent der Bevölkerung hinter
sich wissen konnte. Zu wählen hatten aber Parteipolitiker,
und so wurde – dank funktionierender Fraktionsdisziplin der
parlamentarischen Mehrheit und der Stimmverweigerung einiger ewig
Gestriger – ein makelloser „Parteisoldat“ gewählt,
und das Machtgefüge der Republik blieb in gewohnter Ordnung.
Wen wundert es, dass da der Ruf nach mehr plebiszitärer
Demokratie auch über die Kommunalebene hinaus laut wurde,
natürlich vor allem aus Richtung der im konkreten Fall unterlegenen
Fraktion. Und tatsächlich wird dieses Ansinnen anscheinend
von einer Mehrheit der Bevölkerung geteilt: Laut einer im
Auftrag der ARD durchgeführten Untersuchung sollen 76 Prozent
der Bürger für mehr direkte Beteiligung auch auf Bundesebene
sein.
Aber wäre dies wirklich sinnvoll? Über
welche Gegenstände – einmal abgesehen von der Wahl des
Bundespräsidenten – sollten die Bürger direkt entscheiden?
Etwa das Steuerrecht? In Kalifornien, bekanntlich einem der reichsten
Landstriche dieser Erde, bestimmen die Bürger traditionell
selbst die Höhe der Steuern – mit der Folge, dass der
Staat oft genug nicht in der Lage ist, die Gehälter seiner
Bediensteten zu bezahlen, von der effektiven Wahrnehmung sozialer
Aufgaben einmal ganz zu schweigen. Oder das Gesundheitswesen, dessen
Mechanismen selbst Experten nicht mehr durchschauen?
Nein, die Zusammenhänge der modernen Gesellschaft
sind so komplex, dass sie nur unter professioneller
Führung gesteuert werden können. Allenfalls ist deren
persönliche Verantwortlichkeit zu intensivieren. Die Wurzel
dessen, dass die Politik immer mehr erstarrt und immer weniger
Problemlösungskompetenz zeigt, muss aber woanders liegen.
Vielleicht hilft ja ein Blick in die Begrifflichkeit weiter:
Wer sind denn eigentlich „die Politiker“, die vielgescholtenen?
Sie – insbesondere die Abgeordneten in den Parlamenten – sind
unsere Repräsentanten; sie sind das Spiegelbild ihrer Wähler.
Das ist der Grundgedanke der repräsentativen Demokratie,
aber auch ihre Schwäche: Der Staat ist immer nur so gut
wie die ihn tragende Gesellschaft. Und hier steht nicht alles
zum Besten: Nachdem im 20. Jahrhundert, nicht zuletzt aufgrund
schrecklicher Erfahrungen mit skrupellosem Machtmissbrauch, der
Gemeinsinn zeitweise eine Blüte zu erleben schien, ist die
Gegenwart vom Streben nach Durchsetzung von Individual- und Gruppenegoismen
geprägt. Vor 400 Jahren sah Thomas Hobbes den Staat als
Mittel zur Überwindung eines „Naturzustandes“,
den er als den „Krieg aller gegen alle“ charakterisierte.
Heute hat man das Gefühl, dass der Staat genau zur Führung
dieses Krieges instrumentalisiert wird – seine Macht dient
nicht mehr der Durchsetzung der Interessen der Gemeinschaft gegen
die Einzelner, sondern umgekehrt. Der vorläufige Gipfel
ist die Finanzkrise der vergangenen zwei Jahre, in der es den
schlimmsten Parasiten gelang, über staatliche Institutionen
ganze Volkswirtschaften – voraussichtlich über Jahrzehnte
hinweg – für ihre „Verluste“ aufkommen
zu lassen.
Natürlich kann man das Ruder nicht sofort herumreißen. Auch
sind die weltweiten Systeme und Wirkungszusammenhänge viel
zu diffus, um sie mal eben so zu korrigieren. Aber eine Rückbesinnung
auf das, was einmal als „common sense“ oder „ordre
public“ das Entstehen des modernen Staates prägte, ist
jedenfalls ein erster Schritt. Und dabei wiederum ist das kritische
Hinterfragen von „Sachzwängen“, hinter denen sich
die Interessenpolitik insbesondere in den Parteien nur allzu gerne
versteckt, bestimmt kein Fehler. Auch wenn es oft keine einfachen
Lösungen gibt, kann doch zumindest der Blick auf die Einfachheit
eines Ziels helfen, die Lösung zu strukturieren – und
unlautere Hintergedanken derer, die ein solches Ziel, sei es die
Konsolidierung der Staatsfinanzen, die Kostendämpfung im Gesundheitssystem,
die Reformierung des Steuerrechts oder der Sozialversicherung oder
auch die Bewahrung und Entwicklung des kulturellen Erbes anzustreben
nur vorgeben, entlarven.
Fazit: Nicht die repräsentative Demokratie
steckt in der Krise, sondern die Gesellschaft, repräsentiert
nicht zuletzt durch den Parteienstaat. Die Gesellschaft aber sind
wir alle – und damit kann jeder etwas tun, am besten in Solidarität
mit Gleichgesinnten. Und der erste Schritt hierzu ist nicht der
voreilige Systemwechsel, sondern die Schärfung des eigenen
Bewusstseins.
Tobias Könemann
|