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Spiegel gegen das Verbrechen
Weinberg-Opern in Bregenz wiederentdeckt · Von Juan Martin
Koch Vielleicht hat David Pountney geahnt, dass er seine Serie der
Opernausgrabungen nach dieser Saison nicht mehr würde übertreffen
können. Für die kommenden Jahre jedenfalls hat der Bregenzer
Festspielchef neue Werke bei Judith Weir, Detlev Glanert und HK
Gruber in Auftrag gegeben. Tatsächlich kam die diesjährige
szenische Erstaufführung von Mieczyslaw Weinbergs Oper „Die
Passagierin“ – eingebettet in eine Vielzahl weiterer
Weinberg-Aufführungen und ein Symposium – einer Sensation
gleich.
Mieczyslaw Weinberg? Dieser Name war bis vor Kurzem allenfalls
Kennern der sowjetischen Musikgeschichte ein Begriff. 1919 in Warschau
geboren, floh Weinberg 1939 vor der deutschen Invasion, der seine
Familie zum Opfer fallen sollte, ins weißrussische Minsk,
wo er bei dem Rimsky-Korsakow-Schüler Wassilij Solotarjow
seine kompositorische Ausbildung erhielt. Über Taschkent kam
er auf eine Einladung Dmitri Schostakowitschs hin – dieser
hatte Weinbergs erste Symphonie kennen gelernt – nach Moskau.
Die lebenslange Freundschaft und der gegenseitige künstlerische
Austausch mit seinem vor allem im Westen berühmteren Kollegen,
die ohrenfälligen Verwandtschaften im kompositorischen Tonfall,
haben die Rezeption von Weinbergs Werken eher erschwert als beflügelt – zu
nahe lag die Einordnung als zweitrangiger Schostakowitsch-Adept,
die aber spätestens seit der Bregenzer Großtat dieses
Sommers gänzlich revidiert sein dürfte.
In der Oper „Die Passagierin“, die Weinberg 1968 auf
ein Libretto Alexander Medwedews nach der gleichnamigen Novelle
der Auschwitz-Überlebenden
Zofia Posmysz vollendete, dringt die Auseinandersetzung mit dem
Holocaust in tiefe Schichten vor. Denn die Erzählperspektive
ist die einer Täterin, wohl einer der Gründe, warum das
Werk zu Lebzeiten Weinbergs nicht aufgeführt wurde: Die ehemalige
KZ-Aufseherin Lisa wird während einer Schiffsreise durch die
Begegnung mit einer geheimnisvollen Mitreisenden, der „Passagierin“ des
Titels, auf ihre Vergangenheit zurückgeworfen und muss diese
Stück für Stück ihrem Mann Walter, der um seine
diplomatische Karriere fürchtet, offenbaren. Die Handlung
wechselt zwischen den Szenen auf dem Schiff und den nach und nach
immer breiteren Raum einnehmenden Auschwitz-Rückblenden, was
in Bregenz von Regisseur Pountney und seinem Bühnenbildner
Johan Engels mittels einer klaren horizontale Trennung der Bühne
umgesetzt wird.
Das Wunder dieser Oper, ihre durch die Zeitzeugenschaft verbürgte
Wahrhaftigkeit, besteht nun darin, dass Weinberg das Unaussprechliche
weder durch vordergründige musikalische Schocks noch durch
Betroffenheits-Pathos desavouiert. Die Gebete und Lieder der weiblichen
KZ-Häftlinge rund um die Polin Martha, deren Vertrauen Lisa
teils aus Sympathie, teils aus Berechnung zu gewinnen sucht, sind
von einem melodischen Einfühlungsvermögen, das berührt,
ohne die Figuren zu entblößen. Verstärkt wird dieses
soghafte Eintauchen in seelische Ausnahmezustände – die
intensiven Auseinandersetzungen Lisas mit ihrem Mann in der Rahmenhandlung
nimmt Weinberg ebenso ernst – in David Pountneys souveräner,
sich ganz in den Dienst des Werkes stellender Inszenierung durch
die Entscheidung, nicht wie im Original durchgehend auf Russisch,
sondern in den jeweiligen Landessprachen singen zu lassen.
Die Partitur, die neben den eindringlichen Solopassagen und Dialogszenen
auch Versatzstücke aus der Unterhaltungsmusik und einen als
Lisas Gewissen gleichsam zwischen dieser erodierenden Glamour-Welt
an Deck und dem Lager vermittelnden Männerchor kennt, kulminiert
in einer musikalischen Konstellation, deren Wirkung in der Operngeschichte
des 20. Jahrhunderts einzig dastehen dürfte: Als die geheimnisvolle
Passagierin der Schiffs-Combo einen Zettel zusteckt und diese daraufhin
den Lieblingswalzer des KZ-Kommandanten zu spielen beginnt, kippt
die Szenerie ein letztes Mal ins Lager um. Marthas Verlobter Tadeusz,
ein begabter Geiger, soll besagten Walzer zum Besten geben, doch
stimmt er stattdessen Bachs Chaconne aus der d-Moll-Partita an,
woraufhin sein Instrument zertrümmert und er in die Todeszelle
geführt wird. Weinberg dringt hier musikalisch zum Kern der
Oper und ihres Themas vor, verwandelt die unantastbare Würde
von Bachs Musik ohne jede Effekthascherei in eine ebenso schlichte
wie erschütternde Metapher: Musik als menschliche Antwort
auf unmenschliche Zustände, als ein letzter selbstbewusster
Versuch, der barbarisch organisierten Vernichtung menschlichen
Lebens den Spiegel der Kunst vorzuhalten.
Neben dieser vom Prager Philharmonischen Chor, einem überragenden
Sängerensemble und den von Teodor Currentzis zu einer Höchstleistung
animierten Wiener Symphonikern getragenen Aufführung musste
die zweite Weinberg-Oper fast zwangsläufig verblassen. „Das
Porträt“ (1983), nach der Novelle Nikolaj Gogols, ist
ein beachtliches Stück Musiktheater. Nicht vollständig
gelungen ist dabei aber die Balance zwischen dem tief empfundenen
Künstlerdrama und der Satire auf Gesellschaft und Kunstbetrieb.
Was blieb, war der Eindruck, eine zentrale Komponistenpersönlichkeit
des 20. Jahrhunderts entdeckt zu haben. Eine Zuschauerin sprach
am Ende wohl allen Anwesenden aus der Seele, als sie die atemlose
Stille vor dem Applaus ohne Pathos, aber mit fest entschlossener
Stimme unterbrach: „Bravo, Weinberg.“
Juan Martin Koch
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