Gesang in vier Bänden
Jürgen Kesting, Die großen Sänger. Hoffmann
und Campe, Hamburg, 2614 S., ISBN 978-3-455-50070-7, 328 Euro
Wenn in Opernkritiken in der Regel etwa drei Viertel des Textes
der Inszenierung gelten, während zur Charakterisierung der
musikalischen Interpretation ein paar Sätze und zu den sängerischen
Leistungen ein paar Halbsätze genügen müssen, so
ist dies nicht unbedingt nur den Segnungen des Regietheaters geschuldet.
Es hat wohl auch etwas damit zu tun, ob zur Beschreibung stimmlicher
Phänomene und Qualitäten ein adäquates, gleichzeitig
aber verständliches Vokabular zur Verfügung steht.
Nicht ohne Neid liest man da die Texte eines Jürgen Kesting,
lässt aus dem Klang einer seiner Verbalisierungen eine innere
Klangvorstellung entstehen, um diese dann mit eigenen Hörerfahrungen
zu vergleichen: „Der Tonanschlag auf dem ‚f‘ von ‚Una‘ – also
in der Bruchlage – bekommt die Festigkeit und Resonanz eines
sanften Glockenschlages. Das Tempo ist sehr langsam, fast überdehnt:
Aber Caruso bewahrt die Spannung durch die klangliche Intensivierung
der Phrasen-Enden, die immer perfekt auf den Atem und nie mit einem
Nachstoßen (…) ausklingen …“ (Bd. I, S.
12f.)
Nachzulesen ist solcherlei seit 1986 in Kestings Monumentalwerk „Die
großen Sänger“, das nunmehr um einen Band erweitert
vorliegt. Die Neuausgabe erschöpft sich aber keineswegs in
der ergänzenden – und in der Analyse der Diskrepanzen
zwischen dem Marktwert und der tatsächlichen Qualität
einer Stimme weiterhin brillanten – Darstellung der Entwicklung
der letzten zwanzig Jahre, in denen faszinierende Stimmen wie Cecilia
Bartoli oder Juan Diego Flórez die Bühne betreten haben.
Die Überarbeitung reicht bis in die Neugliederung einzelner
Bereiche und die Beurteilung von Sängerpersönlichkeiten
hinein.
So ist etwa seine kritische, aus rein stimmlichen Gründen
durchaus nachvollziehbare Auseinandersetzung mit Dietrich Fischer-Dieskau
einer stärker abwägenden, die außerordentliche
Vermittlungsleistung für das Kunstlied in den Vordergrund
rückenden Würdigung gewichen; auf manch schneidende Beurteilung
einer einzelnen Partie muss man dafür verzichten.
Nicht in allen Abschnitten hat sich die Umarbeitung ausschließlich
positiv ausgewirkt. So hat Kesting seinen Exkurs über Richard
Wagner (Bd. I, S. 127 ff.) deutlich erweitert. Während die
frühere Fassung konziser und direkter auf historische Gesangsphänomene
einging und deren Entwicklung bis in die Gegenwart verfolgte, wollen
sich in der Neuauflage die zahlreichen Zitate aus Wagners Schriften
nicht recht zu einem Bild von dessen Stimm-ideal fügen. Das
mag angesichts der Komplexität der Materie beabsichtigt sein,
bleibt aber doch unbefriedigend. Das große Callas-Kapitel
ist nunmehr schlüssig in zehn Abschnitte gegliedert, dafür
fehlen einige schöne Interpretationsanalysen.
All das trübt indes den nach wie vor Ehrfurcht gebietenden
Gesamteindruck keineswegs. Noch besser als in der ersten Fassung
scheint die gegenseitige Ergänzung und Erhellung von Einzelporträts
einerseits und Darstellung größerer Zusammenhänge
andererseits gelungen zu sein. Kaum ein anderes Kompendium verlockt
mit seiner sprachlichen Finesse, seiner Lust an klaren Urteilen
und seiner Fülle an Detailbetrachtungen so sehr zum Schmökern
wie Kestings Opus Magnum. Juan Martin Koch
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