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Keine Angst vor dem Stimmarzt
Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie in Münster · Von
Dirk Deuster
In jedem Beruf, ob künstlerisch oder nicht, braucht man,
um ihn ausüben zu können, Instrumente beziehungsweise
Geräte. Kaum eines aber ist so gefährdet wie die Stimme
für diejenigen, die in ihrem Beruf sprechen oder singen müssen – lässt
sie sich doch weit weniger leicht reparieren als andere Geräte
oder auch Musikinstrumente. Die Angst davor, die Stimme zu verlieren
oder zu beschädigen, begleitet Sänger daher seit eh und
je. Für die aktuelle Ausgabe von „Oper&Tanz“ haben
wir verschiedene Fachleute gebeten, sich mit dem Thema der beschädigten
Stimme zu beschäftigen. Dabei stellt sich heraus, dass längst
nicht alles verloren ist, wenn die Stimme versagt. Im Folgenden
beschreibt Dirk Deuster, leitender Oberarzt an der Klinik für
Phoniatrie und Pädaudiologie Münster, seine Herangehensweise.
Im darauf folgenden Artikel schildern Dirk Mürbe (Klinik und
Poliklinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde am Universitätsklinikum
in Dresden) und Hartmut Zabel (Studio für Stimmforschung Hochschule
für Musik Carl Maria von Weber Dresden) ihre Beobachtungen
und Erfahrungen.
Diagnostik und Behandlung von mehr als 4.000 Patienten im Jahr
mit Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen oder kindlichen
Hörstörungen stellen die Schwerpunkte der Arbeit der
Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie
dar, die am Universitätsklinikum Münster angesiedelt
ist. Ein Team aus Ärzten, Logopäden und einem Psychologen
führt die jeweils notwendigen Untersuchungen durch, um Stimm-Defizite
zu diagnostizieren und zu heilen. Dirk Deuster ist leitender Oberarzt
an der Klinik, die unter anderem auch Sänger in einer eigens
dafür eingerichteten Sprechstunde berät.
Es geht um mehr als den Kehlkopf
Was unterscheidet den Sänger vom Instrumentalisten? Der Sänger „trägt“ sein
Instrument immer bei sich, es ist ein Teil seines Körpers
und eingebunden in die Anatomie und Physiologie, das „Wohl
und Weh“ des gesamten Organismus. Und genau hier überschneiden
sich Gesang und Medizin: Nur ein gesunder Organismus kann auf Dauer
eine gesunde Stimme produzieren. Und ein gesunder Organismus ist
mehr als ein gesunder Kehlkopf; Ärzte, die sich mit künstlerischen
Hochleistungs-Stimmberufen beschäftigen, müssen daher über
den „Tellerrand der Kehlkopfspiegelung“ hinausschauen.
Um Ursachen von Störungen der Singstimme zu verstehen, ist
zunächst ein kleiner Exkurs in die Physiologie der Stimmproduktion
erforderlich:
Durch das Absinken und die Formveränderungen des Kehlkopfes
im Verlauf der stammesgeschichtlichen Entwicklung ist der Mensch
in der Lage, den Kehlkopf nicht nur zur Trennung von Luft- und
Speisewegen, sondern auch als differenzierten Tongenerator zu nutzen.
Für die Tonerzeugung (Phonation) bedarf es jedoch nicht nur
eines funktionierenden Kehlkopfes. Zur Erzeugung eines kontinuierlichen
Luftstroms benötigt man ein funktionierendes Atmungsorgan,
zur Klangausformung einen Resonanzraum (Ansatzrohr) und zur Planung,
Koordination und Ausführung der Muskelbewegungen ein funktionierendes
Nervensystem. Der erzeugte Klang muss zudem zur Kontrolle und gegebenenfalls
Korrektur akustisch wahrgenommen werden. Eine weitere Kontrollinstanz
sind die sensiblen Fasern, die das Gehirn kontinuierlich über
die Spannung der Muskeln informieren. Strömungsgesetze
Durch den Luftstrom aus der Lunge entsteht während der Phonation
eine Wellenbewegung der Stimmlippenkante: Trifft der Luftstrom
auf die geschlossenen Stimmlippen (Abbildung 1a), werden diese
auseinandergedrückt (Abbildung 1b). Der passierende Luftstrom
hat aber nicht nur die Kraft, die Stimmlippen zu trennen, sondern
auch die, die Stimmlippen wieder zusammenzuführen. Dies geschieht
aufgrund derselben Strömungsgesetze, die uns verbieten, bei
einem einfahrenden Zug zu nah an der Bahnsteigkante zu stehen,
da wir vom Luftstrom angesogen und dabei mehr als unsere Stimme
verlieren würden. Sind die Stimmlippen dann wieder geschlossen,
besteht dieser Sog nicht mehr und der Luftstrom führt wieder
zu einem Auseinanderweichen der Stimmlippen.
Im medizinischen Sinne ist das „Stimmband“ (Ligamentum
vocale) nur ein Teil dessen, was meist damit bezeichnet werden
soll. Es ist – wie die anderen Bänder des menschlichen
Körpers auch – ein faserartiger Bindegewebsstrang; die
Stimmlippe in ihrer Gesamtheit besteht aber zusätzlich zum
Stimmband aus dem Stimmlippenmuskel (Musculus vocalis) sowie aus
einer Schleimhautoberfläche und darunterliegendem Bindegewebe.
Der mehrschichtige Aufbau der Stimmlippe mit den gut beweglichen,
weichen Schichten von Schleimhaut und Bindegewebe und den weniger
gut beweglichen, härteren Schichten des Stimmbandes und Stimmmuskels
führt durch die unterschiedlichen Elastizitäten beziehungsweise
Steifheiten dazu, dass aus dem Auseinanderweichen und Annähern
der Stimmlippen durch den Luftstrom eine charakteristische Wellenbewegung
resultiert. Die Frequenz dieser Wellenbewegung ist abhängig
vom Spannungszustand der Stimmlippen und entscheidet über
die Frequenz des erzeugten Tones. Stark gespannte Stimmlippen erzeugen
einen hohen, wenig gespannte Stimmlippen einen tiefen Ton. Die
Schwingung ist zusammenfassend ein Ergebnis des subglottischen
(= unterhalb der Stimmritze) Anblasedrucks und dem Verhältnis
zwischen Masse, Spannung und Länge der Stimmlippen. Laryngoskopie und mehr
Diese Zusammenhänge verdeutlichen, dass bei Veränderungen
des Stimmklangs eine Untersuchung der Stimmlippenschwingung auf
mögliche Unregelmäßigkeiten unentbehrlich ist.
Eine einfache Kehlkopfspiegelung (Laryngoskopie) reicht zwar aus,
organische Veränderungen der Stimmlippen zu entdecken, sie
kann aber keine Auskunft über das Schwingungsverhalten geben,
das im Übrigen auch ohne sichtbare organische Veränderungen
gestört sein kann. Da die hochfrequente Schwingung für
das menschliche Auge nicht sichtbar ist, muss hierfür entweder
die Schwingung „verlangsamt“ werden oder ein zeitlich
hochauflösendes Verfahren eingesetzt werden. Für die „Verlangsamung“ steht
die Methode der Laryngostroboskopie zur Verfügung: Während
der Kehlkopfspiegelung misst ein Mikrofon die Frequenz des erzeugten
Tons. Das Stroboskop erzeugt nun frequenzspezifische Lichtblitze,
die bei aufeinander folgenden Schwingungsabläufen jeweils
nur einen kurzen Teil belichten. Werden diese Einzelbilder hintereinander
abgespielt, zeigt sich für den Betrachter ein kontinuierlicher
Schwingungsablauf, quasi in „Zeitlupe“. Da die Bilder
aus verschiedenen Schwingungsperioden stammen, dürfen die
aufeinander folgenden Schwingungsperioden jedoch nicht stark voneinander
abweichen. Die Durchführung einer Laryngostroboskopie kann
auf zwei Arten erfolgen: mittels eines starren Endoskops durch
den Mund oder eines flexiblen Endoskops durch die Nase. Während
die Untersuchung durch den Mund den Vorteil einer besseren optischen
Auflösung beziehungsweise höheren Vergrößerung
hat und im Normalfall einer kürzeren Vorbereitungszeit bedarf,
bestehen die Vorteile der flexiblen Endoskopie in einem geringeren
Würgereiz und einer physiologischeren Stimmproduktion während
der Untersuchung. Hochgeschwindigkeitskameras
Um den tatsächlichen Schwingungsablauf sichtbar zu machen,
bedarf es wie oben erwähnt eines Systems, welches ausreichend
viele Bilder in kurzer Zeit aufnehmen kann. Hierfür stehen
digitale Hochgeschwindigkeitskameras zur Verfügung, die etwa
4.000 Bilder in der Sekunde aufnehmen können. Die dabei anfallende
gewaltige Bild- beziehungsweise Datenmenge limitiert jedoch im
klinischen Alltag die Dauer einer Aufnahme. Ein wichtiger Aspekt für den Arzt wie für den Patienten
bei der endoskopischen Untersuchung bedarf besonderer Erwähnung:
Die Stimmproduktion während einer Laryngostroboskopie, insbesondere
bei einer starren Endoskopie, bei der die Zunge herausgestreckt
und festgehalten wird, unterscheidet sich von der Stimmproduktion
während des „normalen“ Singens. Dem wird jeder
Sänger, der bereits irgendwann eine solche Untersuchung hat
durchführen lassen, zustimmen. Nun muss man diese Tatsache
aber auf der anderen Seite auch bei der Interpretation des Befundes
berücksichtigen, was besonders dem Sänger
schwerfällt, der seinem „Instrument“ ja in der
Regel nur selten bei der Arbeit zusehen kann und jede Schwingungsunregelmäßigkeit
oder Spaltbildung mit Argwohn oder sogar Bestürzung zur Kenntnis
nimmt. Die Laryngostroboskopie ist zwar ein wichtiger, aber trotzdem
nur ein Teil der Untersuchung und bedarf der Interpretation und
Erläuterung durch den erfahrenen Phoniater/Stimmarzt in Zusammenschau
mit anderen Untersuchungsergebnissen wie der funktionellen Stimmuntersuchung,
bei der die Stimm- und
Atemfunktionen beim Sprechen und Singen überprüft werden. Organisch versus funktionell
Stimmstörungen können mit oder ohne sichtbare Veränderung
an den an der Stimmbildung beteiligten Organen auftreten (organische
versus funktionelle Stimmstörungen). Hierbei muss das „sichtbar“ betont
werden, da zum Beispiel bereits kleine strukturelle und für
das Auge nicht sichtbare Veränderungen der Stimmlippen Schwingungs-
und somit Stimmklangänderungen verursachen können. Ebenso
gilt auch hier der Grundsatz, dass die Funktion die Form bedingt
und umgekehrt. So kann zum Beispiel eine dauerhafte Fehlbelastung
der Kehlkopfmuskulatur durchaus zu morphologischen Veränderungen
wie den gefürchteten Phonationsverdickungen (Stimmlippenknötchen)
führen.
Durch das fein aufeinander eingespielte Miteinander von Lunge
und Atemwegen, Stimmlippen und Ansatzrohr, zentralem und peripherem
Nervensystem, Kehlkopf- und Gesamtmuskelspannung sowie akustischer
und sensibler Wahrnehmung bei der Stimmproduktion ist die Zahl
der „Störfaktoren“, die dieses Gleichgewicht durcheinanderbringen
können, groß. Ein professioneller Sänger kann den
ein oder anderen „Störfaktor“ sicherlich technisch
kompensieren, problematisch wird es erfahrungsgemäß aber
dann, wenn dieser längere Zeit oder in einer zu starken Ausprägung
auftritt oder mehrere Faktoren zusammentreffen. In diesem Fall
hat es sich bewährt, frühzeitig gemeinsam mit dem Arzt
nach den Ursachen zu suchen, da aus einer Kompensation auch rasch
eine Fehlkompensation und ein zusätzliches Problem werden
kann. Ein Beispiel aus dem klinischen Alltag ist der vermehrte
Krafteinsatz der Kehlkopfmuskulatur (Hyperfunktion) zum Ausgleich
einer bronchialen Einschränkung (mit einem reduzierten subglottischen
Druck), zum Beispiel durch eine allergisch bedingte chronische
Bronchitis. Eine dauerhafte Hyperfunktion führt fast zwangsläufig
zu einer Veränderung an den Stimmlippen, sei es durch die
Entwicklung von Phonationsverdickungen, Wasseransammlungen (Ödemen),
Gefäß- oder andere Veränderungen. Umgebungsdiagnostik
Ein wichtiger Bestandteil in der Stimmsprechstunde ist auch die „Umgebungsdiagnostik“,
mit deren Beschreibung man problemlos ein eigenes Kapitel füllen
könnte; an dieser Stelle seien nur einige wichtige Punkte
erwähnt, die je nach Krankengeschichte und Befund abgeklärt
werden sollten: Chronische Infekte der Nase oder der Nasennebenhöhlen können
Infekt-Herde für wiederkehrende Kehlkopfinfektionen sein.
Ein Magensäurereflux (= Rückfluss), der auch unbemerkt
ohne das klassische Symptom „Sodbrennen“ bestehen kann,
kann die Rachen- und Kehlkopfschleimhäute schädigen.
Allein eine behinderte Nasenatmung und/oder ein Schnarchen können
durch die unphysiologische Mundatmung zur Austrocknung der Stimmlippenschleimhaut
führen. Und auch Allergien können indirekt über
eine behinderte Nasenatmung oder direkt die Schleimhaut schädigen.
Im weitesten Sinn gehören auch psychische Faktoren zur „Umgebungsdiagnostik“.
Das „Instrument“ des Sängers ist wie in der Einleitung
erwähnt in das „Wohl und Weh“ des gesamten Organismus
eingebunden und es reicht beispielsweise für ein Vorsingen
nicht, eine schöne Stimme zu besitzen – diese muss auch
zum richtigen Zeitpunkt in Topform sein, die physische oder psychische
Verfassung des Sängers interessiert das Auditorium
dabei wenig. Die Stimme ist doch mehr als ein „Tongenerator“ für
die Übermittlung verbal-semantischer Inhalte, sie ist zum
Ausdruck von Emotionen prädisponiert (was auf der Bühne
im besten Falle zum Erfolg, im schlechtesten Falle zu einem Stimmversagen
führt). Auch wenn die psychischen und psychosomatischen Faktoren
einer gestörten Sängerstimme an dieser Stelle nicht abschließend
erläutert werden können, sind sie ein wesentlicher Teil
in der Diagnostik von Stimmstörungen und sollten unbedingt
gebührend und professionell Beachtung finden. Dirk Deuster
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