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In der Wüste der Existenz
Aribert Reimanns „Lear“ in der Komischen Oper Berlin · Von
Isabel Herzfeld
Ich kann nur für die Stimme schreiben, nicht gegen sie“,
sagte Aribert Reimann in einem Interview kurz vor der Neuinszenierung
seines „Lear“ in der Komischen Oper Berlin. So sind
alle Musiktheaterwerke des mittlerweile 73-Jährigen, in Berlin
lebenden Komponisten von der traditionellen Wirkungsästhetik
geprägt, ohne im mindesten ihre Modernität, ihre Zeitgenossenschaft
zu leugnen. Wie Alban Berg im „Wozzeck“ oder Bernd
Alois Zimmermann in den „Soldaten“ beherrscht Reimann
die Kunst, avancierte Klangkonstruktionen mit höchst emotionaler
Gesangsvirtuosität zur Deckung zu bringen. Vor allem der Erfolg
des „Lear“ war beispiellos: Nicht weniger als 20 Produktionen
hat die Oper seit ihrer Münchner Uraufführung 1978 erlebt.
Dietrich Fischer-Dieskau gab einst der Titelgestalt Stimme und
Gesicht, durchaus nicht frei von gewissen darstellerischen Klischees
einer „realistischen Auffassung“. Harry Kupfer besorgte
1983 an der Komischen Oper Berlin eine politische Lesart, die jeweils
sowohl als Protest gegen den Kapitalismus wie als Kritik am DDR-System
in Anspruch genommen wurde. Reimann selbst hatte sein Werk als „gänzlich
unpolitisch“ bezeichnet. Immerhin lag seine Entstehungszeit
mitten im „deutschen Herbst“, unmittelbar berührt
von der Wahrnehmung menschenverachtender Gewalt rund um die Schleyer-Entführung.
Hans Neuenfels verzichtet nun auf jegliche psychologisierende
oder politisierende Festlegung. Der als Provokateur verschrieene
Regisseur nimmt sich wie selten ganz hinter das Werk zurück
und liefert damit eine seiner schlüssigsten Arbeiten ab. Alles
läuft hier auf das eigentliche Ziel des menschlichen Lebens
hinaus, den Tod, den Fall ins Nichts. Doch dem gehen noch andere
Nicht-Zustände, Leerstellen, Wüsteneien der menschlichen
Existenz voraus. Sie zeigen sich in Trennungen: Lear trennt sich
von seiner Macht, seinem Land, seiner geliebten Tochter Cordelia,
reißt sich, schon im Wahnsinn, in der sturmgepeitschten Heide
die Kleider vom Leib. „Der nackte Mensch ist ein armseliges,
gespaltenes Tier“ heißt es dazu bei Shakespeare, in
den verknappten, sehr singbaren Libretto-Worten von Claus H. Henneberg.
Und so sind erst einmal reichlich Maden zu sehen als Endpunkt
und Anfang allen Lebens: Sie kriechen aus einem Apfel, um den sich
vorher zwei kleine Jungen gezankt haben, wimmeln überlebensgroß über
eine Projektionswand, vor der sich die Königsfamilie wie zum
Staatsfoto postiert hat, beherrschen das Bild, wenn alles vorbei
ist und ein neuer, anonymer Machthaber einsam auf leerer Bühne
steht. Der Tod ist allgegenwärtig in der Gestalt des Narren,
der mit aufgemaltem Gerippe und schwarzen Augenhöhlen auftritt – Neuenfels’ Ehefrau,
die Schauspielerin Elisabeth Trissenaar, huscht bald stumm herum,
gibt bald in befremdlichem Singsang unbequeme Wahrheiten von sich.
Dazwischen wird die Geschichte relativ linear erzählt, in
symbolhaltigen Bildfindungen, wie sie Neuenfels eigen sind. Ein
vergittertes Milchglasgehäuse hat Hansjörg Hartung für
die meist grell neonbeleuchtete Szene gebaut, auf der mal elegante
Tischchen mit Sektgläsern stehen, mal die Lumpen der Zivilisation
herumliegen. Lear reicht seinen Töchtern Goneril und Regan
je ein Mantelstück, als er das Reich unter ihnen aufteilt.
Fürs Rentnerdasein genügen Cordhose und Strickjacke.
Die Söhne des königstreuen Gloster umlauern sich in Raubtierkäfigen.
Puppen und Stoffhunde müssen als Lebensersatz für die
machtgeilen Schwestern herhalten – sie verwandeln sich in
Menschen mit Tiermasken, die Gloster umhecheln, wenn ihm die Augen
ausgerissen werden. So schrecklich die Blendung Glosters ist, so
kommt sie doch ohne die Grausamkeiten aus, die neuerdings den alten
Opernstoffen spektakulären Realismus einhauchen sollen. Eher
nüchtern werden die Vorgänge gezeigt, ohne jedes Pathos.
Aller Schrecken, alle Beklemmung liegt in der Musik, zu der Carl
St. Clair das Orchester der Komischen Oper regelrecht aufpeitscht
oder wie ein Ungeheuer in neblig dunklen Höhlen vor sich hin
brüten lässt, bereit zur nächsten Attacke. Schneidend
dissonante Akkorde hat Reimann hier gefunden, bis hin zum vierteltönigen
Riesencluster, der durch den Tonhöhenverlust wiederum geräuschhaft
grau wird. Die hysterisch hohen Koloraturkaskaden von Irmgard Vilsmaier
als Goneril – auch optisch imposant im knapp die Pfunde umschließenden
grauen Hosenanzug – und Erika Roos als noch durchgeknallterer
Schwester Regan im pinkfarbenen Ballonrock können sich glänzend
auf diesen Klangwogen behaupten. Szenische und musikalische Darstellung
sind untrennbar stimmig verwoben bei diesem wunderbaren, so nuancenreich
klar und musikalisch geführten Sänger-ensemble, in dem
der junge Bariton Tómas Tómasson den wahnsinnigen
Greis Lear voll anrührender Überzeugungskraft und doch
mit natürlich-unprätentiösem Timbre gibt. Eine Gruppe „gesichtsloser“ Knaben
und Mädchen in weißen Kapuzenshirts begleitet ihn durch
die Heide – die Chorsolisten der Komischen Oper kommentieren
auch die königlichen Intrigen mit dicht gewirktem, heikel
zu bewältigenden Stimmgeflecht. Caroline Melzer ist eine ätherische
Cordelia, deren reine Liebe hier nichts bewirken kann. Der Countertenor
Martin Wölfel, als verstoßener Sohn Edgar ihr Gegenpart,
der als „armer Tom“ durch die Heide irrt, darf als
einziger betörend schöne, melancholische Vokalisen singen – er,
der im vorgetäuschten Wahnsinn noch die helfende Hand ausstrecken
kann, mit dornenkrongleichen Stacheldraht-Applikationen auf nacktem
Oberkörper, verkörpert eben doch eine Utopie.
Isabel Herzfeld
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