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Ballett kennt keine Grenzen

Stuttgart ehrt den Choreografen Kenneth MacMillan · Von Vesna Mlakar

Was mag es bedeuten, einen Freund und engen Berufskollegen posthum mit einer Uraufführung zu ehren? Kenneth MacMillan jedenfalls packte seine tiefe, von Respekt getragene Verbundenheit mit John Cranko in eine noch heute berührende choreografische Interpretation von Gabriel Faurés „Requiem“. Die Produktion studierte er 1976, drei Jahre nach Crankos unerwartet frühem Tod, für die Direktionsnachfolgerin in Stuttgart, Márcia Haydée, sowie für Birgit Keil, Richard Cragun und Egon Madsen in führenden Partien ein.

Der große Premieren-Erfolg kurbelte schnell das Interesse auch anderer Compagnien an – wie schon elf Jahre zuvor MacMillans außergewöhnliches Mahler-Ballett „Das Lied von der Erde“. Der Stein, „einem schönen Musikstück Tanz hinzuzufügen“, den er damit ins Rollen brachte, ebnete auch Choreografen wie John Neumeier, Uwe Scholz bis hin zu Martin Schläpfer das weite Feld, „hehre Konzertmusik“ zu „vertanzen“. Vom Royal Ballet entschieden abgelehnt, hatte Cranko 1965 die Realisierung des Mahler-Projekts ermöglicht. So verfügt das Stuttgarter Ballett (neben vier weiteren MacMillan-Balletten) über zwei – auch musikalisch – bedeutende Schlüsselwerke des 1983 in den britischen Adelsstand erhobenen Choreografen. Beide wurden zum 27. November 2009 zu Ehren des 80. Geburtstags von MacMillan nach über zehn Jahren Pause neu einstudiert.

Lieder von Leben und Tod

 
„Das Lied von der Erde“ mit Friedemann Vogel. Foto: Ulrich Beuttenmüller
 

„Das Lied von der Erde“ mit Friedemann Vogel. Foto: Ulrich Beuttenmüller

 

Es ist der Lauf des Lebens, den MacMillans Choreografie, ausgehend von Mahlers „Lied von der Erde“, assoziativ umkreist: ein Mann (Filip Barankiewicz), eine Frau (Maria Eichwald), Einsamkeit, Jugend, Schönheit und sorgloses Vergnügen, Vergänglichkeit und Neubeginn. Dazu – fast immer gegenwärtig – die Figur des Ewigen beziehungsweise Boten des Todes (Friedemann Vogel, erkennbar an seiner weißen Halbmaske). Rasant im Auftakt (den die Männer in den ersten Minuten leider durch wohl der Aufregung gezollte Unsicherheiten etwas verwässerten) endet das Stück mit seinem langen Schlusssatz („Der Abschied“) nach einem großen Pas de deux fast im Stillstand. Nachhaltiger könnte die Wirkung nicht sein. Einen gewissen Touch der „guten alten“ 1970er-Jahre konnte aber auch Georgette Tsinguirides‘ ausgesprochen frische und helle Einstudierung der Urfassung nicht hinwegfegen. Umso spannender war es, sogleich im Anschluss das ein Jahrzehnt jüngere „Fauré-Requiem“ zu erleben.

Tod und Verklärung, Verlust und dessen Bewältigung – die Thematik ist ähnlich, zeitlos und schwer. Für heutige Augen ist die kräftige Schminke der Tänzer vielleicht ungewohnt. Der figural-architektonische Aufbau hingegen beeindruckt. Soli und Ensemblepassagen verdichten sich in einem Fluss, der mehr und mehr auf Gestik verzichtet und dafür Nuancen des Ausdrucks tiefer in die Körper gräbt. Durch solche „Erbstücke“ lassen sich Entwicklungsstränge zum heutigen Ballettschaffen begreifen.

Aktiver Tänzer und Choreograf

Nur knapp 63 Jahre Lebenszeit waren Kenneth MacMillan beschieden. Die meisten davon widmete der Sohn armer Eltern dem Tanz. Als sein Herz in den Kulissen von Covent Garden zu schlagen aufhörte, war sein letzter Eindruck die Wiederaufnahme seines dramatischen Abendfüllers „Mayerling“.

Am 11. Dezember 1929 im schottischen Dunfermline geboren, wuchs MacMillan in Great Yarmouth unter schwierigen Bedingungen auf. Seine Liebe zum Tanz stempelte ihn am Gymnasium zum Außenseiter. Zuflucht bot ihm einzig das Kino. Fred Astaire war sein Idol.

Nach dem Tod der Mutter führte den 16-Jährigen 1945 ein Stipendium an die Sadler’s Wells Ballet School nach London, wo er den zwei Jahre älteren John Cranko kennen lernte. Bereits 1946 wurde er ins Sadler‘s Wells Theatre Ballet übernommen, tanzte von 1948 bis 1952 beim späteren Royal Ballet. Doch das tägliche Training, die stete körperliche Plackerei war ihm verhasst. Obwohl er in komischen Rollen ebenso brillierte wie in romantischen oder virtuosen, vermisste er Partien mit mehr Potenzial zur Interpretation. Außerdem litt er an zunehmend heftigem Lampenfieber, so dass mit 23 Jahren sein Entschluss reifte, der aktiven Karriere den Rücken zu kehren.

Wie Cranko bereits zuvor, wendete MacMillan sich der Choreografie zu. Seine Chance kommt, als kurzfristig ein Stück ausfällt und er in nur einer Woche seinen Erstling „Somnambulism“ herausbringt. Sehr bald kristallisiert sich heraus, dass ihn – zu einer Zeit, in der dekorative Aspekte oft im Vordergrund stehen – vor allem die Menschen interessieren. Ob Einakter, abendfüllend oder gar abstrakt: Er will Erfahrungen künstlerisch auswerten und sein ausgeprägtes Gespür für Charaktere kommt ihm da sehr entgegen. Weiterhin klassisch im Fundament, begleitet seine Schritte ein neuartig jazziger, zum Modern Dance greifender Anstrich: Auch die Kantigkeit in der Musik soll sich in den Bewegungen widerspiegeln.

1958 kreiert er für die junge Kanadierin Lynn Seymour das Mädchen in „Der Bau“, wobei er Kafkas Vorlage (die in einem Hasenbau spielt) zu einer Metapher für im Krieg Verfolgte adaptiert. Mit Seymour verbindet MacMillan 20 Jahre lang eine künstlerisch-symbiotische Beziehung, in der sie die tragenden Frauenrollen seiner Ballette kreiert, darunter die Vergewaltigungsgeschichte „The Invitation“ (1960), der Publikumsrenner „Manon“ (1974) und zuletzt „Mayerling“ (1978). 1966 begleitet Seymour MacMillan nach Berlin, wo er drei unglückliche Jahre lang das Ballett der Deutschen Oper leitet. Er fühlt sich in der geteilten Stadt unwohl, wird ausgebuht und verfällt dem Alkohol. Nur das Risiko zu sterben bringt ihn wieder auf den geraden Weg.

Nach Frederick Ashtons Pensionierung kehrt er ans Royal Ballet zurück, dessen Direktion er ab 1970 für sieben Jahre übernimmt. Man misst ihn am verehrten Vorgänger, was sein Amt nicht leichter macht, zumal er in Werken wie „Anastasia“ (1971), „Isadora“ (1981), „Valley of Shadows“ (1982, Schicksalsgeschichte einer jüdischen Familie, mit Alessandra Ferri) oder „Different Drummer“ (1984, seiner Wozzeck-Fassung) das Kontroverse, Expressive, Psychodramatische über märchenhafte Schönheit stellt und seine Interpreten Schmerz auch mal drastisch, das heißt „körperlich verkrampft“ darstellen lässt.

1977 tritt er als Chef zurück, bleibt dem Royal Ballet aber bis zu seinem Tod am 29. Oktober 1992 als Principal Choreographer verbunden. 1984 holt ihn das American Ballet Theatre als Codirektor nach New York. Zurück in England feiert im Dezember 1989 sein „Pagodenprinz“ im Royal Opera House Premiere. 1957 von John Cranko urchoreografiert, hat das Werk Benjamin Brittens einzige originale Ballettkomposition zur Grundlage: ein Meisterwerk an raffinierter Orchestrierung und melodischer Feinsinnigkeit, die vor allem in ihren exotischen Anklängen dem Tanzmärchen ausgezeichnet zustattenkommt.

Freimütig gestand MacMillan, weder Noten zu lesen noch Partituren zu analysieren: „Ich will von den Affekten der Musik ergriffen werden.“ Mit welcher Meisterschaft ihm dies – sowie die Visualisierung von Stimmungen durch Körperposen, Dynamik und Gruppierungen – auch losgelöst von konkreten Handlungsinhalten gelang, davon konnte man sich in Stuttgart überzeugen.

Vesna Mlakar

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