Stimmkrisen und deren Bewältigung
Formen der Rehabilitation · Von Dirk Mürbe und Hartmut
Zabel Unser Alltag ist durch hohe Ansprüche an stimmliche Leistung
und Präsenz charakterisiert, so dass oft von einer Kommunikationsgesellschaft
gesprochen wird. Im Arbeitsprozess stehen dabei zahlreiche Berufsgruppen
vor besonderen stimmlichen Herausforderungen, wobei als Beispiele
Lehrer, Verkäufer und Mitarbeiter von Call-Centern aufzuführen
sind. Die Tätigkeiten in stimmintensiven Berufen sind mit
gehäuft auftretenden Stimmbeschwerden verbunden.
Besondere Belastungen stellen auch die stimmlichen Anforderungen
für Berufsgruppen im künstlerischen Bereich dar, wobei
hier Schauspieler und Sänger zu nennen sind, bei denen überproportional
häufig Stimmbeschwerden auftreten. Alle professionell ausgebildeten
Künstler werden im Laufe ihrer beruflichen Laufbahn mit akuten
stimmeinschränkenden Ereignissen konfrontiert, die oftmals
mit Atemwegsinfekten oder kurzfristigen Überlastungen einhergehen
und sich in der Regel rasch regenerieren. Bei dauerhafter Überlastung
des Stimmsystems können diese Probleme aber chronifizieren
und schließlich in eine Stimmkrise münden, in der für
die Betroffenen oft keine kurzfristigen Optionen einer Problemlösung
zur Verfügung stehen.
Unter einer Stimmkrise verstehen wir eine anhaltende Störung
der Stimme, wobei deren Ursachen im funktionellen und/oder im organischen
Bereich liegen können. Dabei ist hervorzuheben, dass bei der
Analyse und Bewertung einer Stimmkrise eine eindimensionale Reduktion
auf ausgewählte Befunde, beispielsweise eine stroboskopische
Aufnahme, der Komplexität der Probleme nicht gerecht wird.
Die Beschäftigung mit einer Krisensituation erfordert immer
ein ganzheitliches Erfassen der gestörten Stimmbalance des
Patienten im stimmlichen, körperlichen und seelischen Bereich.
Ursachen für Stimmkrisen sind mannigfaltig und selten auf
nur ein Grundproblem zu reduzieren. Dabei spielen verschiedene
Konfliktfelder ineinander, wobei nachfolgend häufige Ursachen
für Stimmprobleme aufgeführt werden. Dabei können
persönliche Aspekte wie Lebensrhythmus, individuelle Kontaktfähigkeit,
Lebensgewohnheiten (Rauchen, Alkohol) und Lebenskonflikte genauso
ursächlich wirken wie spezifische berufliche Belastungen,
die sich zum Beispiel in Probendichte, Besetzungspolitik und Fachwechsel
widerspiegeln. Des Weiteren stellen externe Einflüsse wie
Störschallpegel bei hoher Umgebungslautstärke, Raumverhältnisse
und klimatische Bedingungen wesentliche Co-Faktoren dar. Individuelle
gesundheitliche Aspekte beinhalten neben dem physiologischen Alterungsprozess
auch die Beachtung eigener organischer Probleme (z.B. Krankheiten
der oberen Luftwege, Schwerhörigkeit) sowie psychischer Konfliktfelder
(Nervosität, Überlastung, Erschöpfung). Der richtige Arzt
Im professionellen Bereich suchen betroffene Patienten mit einer
dauerhaften Stimmstörung in der Regel ärztlichen Rat
und wenden sich an einen Phoniater als Fachmediziner für Stimmstörungen.
Der Erstkontakt des Patienten mit dem betreuenden Phoniater ist
von essenzieller Bedeutung, um eine grundlegende Vertrauensbasis
für den oft längerfristigen Kontakt herzustellen. Die
grundlegenden Bestandteile einer phoniatrischen Diagnostik (siehe
Schneider-Stickler, 2007) sollten bei Patienten mit Stimmkrisen
insbesondere die genaue Erfragung des persönlichen und künstlerischen
Werdeganges und eine genaue Analyse des Entstehungsweges der Beschwerden
beinhalten. Neben diesen anamnestischen Angaben mit den Schwerpunkten
der psychosozialen Anamnese und der Berufsanamnese sind videostroboskopische
Diagnostik und Stimmschallanalyse unverzichtbarer Bestandteil der
phoniatrischen Konsultation.
Erst nach Abschluss einer mehrdimensional umfassenden und sorgfältigen
Diagnostik sollte gemeinsam mit dem Patienten ein Betreuungskonzept
entworfen werden. Im phoniatrischen Bereich sind prinzipiell funktionelle,
medikamentöse beziehungsweise operative Ansätze in Abhängigkeit
der individuellen Befundkonstellation denkbar. Es ist davon auszugehen,
dass durch Behebung einer isolierten Ursache nur selten der ersehnte
Normalzustand wiederhergestellt werden kann. Vielmehr ist oftmals
eine parallele Bearbeitung unterschiedlicher Problemfelder notwendig,
um die verlorene Balance wiederzuerlangen. Dieser multimodale therapeutische
Ansatz sollte keinesfalls psychosoziale oder konstitutionelle Faktoren
außer Acht lassen.
Nur für ausgewählte Krankheitsbilder stehen medikamentöse
Optionen zur Verfügung. Dies betrifft insbesondere die im
Bereich professioneller Stimmen häufige Problematik einer
Refluxerkrankung, bei der durch aus der Speiseröhre in den
Kehlkopf übertretende Magensäure eine Reizung des Stimmapparates
mit nachfolgenden Stimmproblemen entstehen kann. Für diese
Patienten stehen neben Aspekten der Ernährungsberatung auch
medikamentöse Optionen zur Verfügung, die eine Problemsituation
zu meistern helfen, aber im Regelfall nicht als alleiniger Lösungsansatz
zu favorisieren sind. Die Vielschichtigkeit der Ursachen von Stimmproblemen
legt nahe, den Betroffenen zu verdeutlichen, dass eine rein medikamentöse
Problemlösung nur in Ausnahmefällen möglich sein
wird. Phonochirurgie
Falls organische Veränderungen an den Stimmlippen zu einer
chronischen Stimmstörung führen, ist als weiterer therapeutischer
Ansatz ein phonochirurgischer („stimmchirurgischer“)
Eingriff bei bestimmten Befundkonstellationen sinnvoll. Als Beispiel
sind ausgeprägte Gewebeverdickungen der Stimmlippen mit Flüssigkeitseinlagerung
(„Ödeme“) aufzuführen, die bei chronischer
Fehlbelastung auftreten können und zur Instabilität der
Stimme und zu ungenügender Belastbarkeit führen können.
Dabei ist zu betonen, dass die morphologischen Auffälligkeiten
der Stimmlippen nicht allein die Entscheidung für oder gegen
eine Operation prägen können, sondern immer mit der funktionellen
Störung der Stimme in Beziehung zu setzen sind. Die operative
Therapie sollte in ausgewiesenen Zentren erfolgen, die zum einen
phonochirurgische Erfahrung, zum anderen phoniatrische Sensibilität
für die enor-men Anforderungen im Profistimmbereich bereithalten.
Zu den zwingenden Voraussetzungen zählen auch ein adäquates
phonochirurgisches Equipment und Erfahrungen in der angemessenen
Wahl des operativen Verfahrens und des anästhesiologischen
Vorgehens. Zudem müssen Konzepte für eine spezialisierte,
den beruflichen Anforderungen entsprechende Nachsorge gegeben sein.
Im funktionellen Bereich stehen in zunehmendem Maße mit professionellen
Stimmen vertraute Therapeuten zur Verfügung, die sich mit
ganzheitlichem Ansatz den individuellen Problemfeldern des Betroffenen
nähern. Neben den restituierenden Effekten ist hierbei insbesondere
ein präventiver Ansatz mit in die Betreuung einzuflechten,
um eine langfristige Protektion zu gewährleisten.
An der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden geht
die Sängerausbildung durch die umfangreichen Möglichkeiten
des seit 50 Jahren bestehenden „Studios für Stimmforschung“ einher
mit einer intensiven Dispensairebetreuung aller Studierenden, professionellen
Sänger und Schauspieler. Das bedeutet auch die Nutzung einer
implizierten Therapieoption, wenn sie sich als notwendig erweist. Maßnahmen und Therapien Die vorab beschriebenen Formen von
Stimmkrisen und Krankheitsbildern einer nicht mehr ausreichend
funktionierenden Phonation oder einer
eingeschränkten sängerischen Leistung müssen nicht
zwangsweise zur Berufsaufgabe führen. Eine ganze Reihe von
Maßnahmen ist Ärzten und Therapeuten gegeben, um mit
Betroffenen den mehr oder weniger geringer gewordenen Spielraum
wieder auf ein optimales Maß zu bringen.
Neben der medikamentösen und chirurgischen Therapieform lässt
sich die menschliche Stimme auch durch geeignete Übungen und
neu zu erlernende Trainingsmechanismen reaktivieren. Oftmals kommen
auch verschiedene Kombinationen der beschriebenen Therapien zur
Anwendung. In jedem Fall sollten Bewegungsabläufe, Muskeltraining,
die Einstellung des Ansatzrohres und das kinästhetische Wahrnehmungsempfinden
durch Stimmübungen wieder trainiert oder neu erlernt werden.
Dabei steht die Wechselbeziehung von Gesangspädagogik und
Stimmtherapie im Fokus. Beide Bereiche ergänzen sich dabei.
Aus eigentlich didaktischen Gesichtspunkten müssen Trainingsformen
entwickelt werden, welche die vollständige Wiederherstellung
der Stimmfunktion zum Ziel haben. Zugleich muss der Therapeut didaktisches
Geschick besitzen, um die Aufmerksamkeit des Patienten auf die
Funktion zu lenken. Vorausgegangen ist für Betroffene oftmals
ein längerer Leidensweg, der eine ganze Reihe von Folgen nach
sich zieht. Vor allem existenzielle Fragen, die durch die bestehende
Unsicherheit auftreten, belasten künstlerisch aktive Menschen,
da die emotionale Ebene im Berufsalltag eine besondere Bedeutung
hat und sich nicht in der Krise ausklammern lässt. Im Gegenteil,
er verstärkt sich, je länger die Phase der Leistungsminderung
anhält.
Daraus ergibt sich für den Therapeuten wie für den Patienten
eine Vielzahl von Konsequenzen, über deren Bedeutung sich
beide vor Behandlungsbeginn bewusst werden müssen. Hoffnungen
auf schnelle Therapieerfolge, Ungeduld, Fehlbelastungen, Überforderungen
etc. gilt es zu verhindern. Die Vertrauensbildung steht dabei im
Vordergrund. Die Aufklärung über den Zustand der Stimme
ist eine Voraussetzung, um notwendige Veränderungen klar werden
zu lassen. Dabei spielt auch das Verständnis für den
Erkrankten eine große Rolle, um den Aspekt des gesunkenen
Selbstwertgefühls nicht noch weiter zu verstärken. Natürlich
kann eine Therapie nur erfolgreich sein, wenn der Betroffene dafür
genügend Motivation erfahren hat und interessiert ist an einer
aktiven Verbesserung seiner Lage. Dass Therapeut und Patient genügend
Geduld und auch eine Portion Gelassenheit bei aller Problematik
aufbringen müssen, wird oftmals unterschätzt, kann jedoch
ein entscheidendes Merkmal für den Therapieverlauf sein. Hoffnungslosigkeit
ist hingegen kontraproduktiv für die gemeinsame Arbeit. Darauf
sollten sich beide verständigen, dass der beginnende Prozess
nur gemeinsam erfolgreich abgeschlossen werden kann. Eine von beiden
Seiten besprochene, akzeptierte und abgestimmte Strategie bildet
den letzten Bereich herausgestellter Konsequenzen. Die Einbeziehung
des behandelnden Phoniaters ist dabei für den gesamten Behandlungserfolg
von wesentlicher Bedeutung. Stimmtherapie in der Praxis
Die Gliederung einer Stimmtherapie sieht wie folgt aus: Zunächst
erfolgt die Anamnese. Die kann zum Teil schon zuvor mit dem Mediziner
besprochen worden sein. Der Therapeut sollte sich jedoch ein geschärftes
Bewusstsein für die Rahmenbedingungen, Belastungen und besonderen
Aspekte zu Fragen der Lebensweise des Patienten aneignen. Welche
Partien wurden in welchem Zeitraum gesungen? Welche Vorstellungssequenzen
bestehen für den Sänger oder Schauspieler? Wie sieht
das Verhältnis von Be- und Entlastung der Stimme und des Körpers
aus? Wie sieht die Familiensituation aus? Es sollten also alle
Gesichtspunkte besprochen werden, die die künstlerische Arbeit
in irgendeiner Weise beeinflussen. Die sich anschließende Diagnostik mit aktiver Unterstützung
durch den Phoniater soll den momentanen Zustand des Stimmorgans
beschreiben und dient als Ausgangspunkt für alle weiteren
Betrachtungen. Die Entscheidung für eine entsprechende Therapie
und ihre Beschreibung stellt die Weichen für den genauen Weg
der gemeinsamen Arbeit. Dazu werden Übungen erläutert
und begründet, damit die Transparenz der Therapie für
den Betroffenen genügend groß bleibt. Oftmals werden
Begleitmaßnahmen besprochen, die das allgemeine Wohlbefinden
stärken sollen oder die Tagesrhythmisierung verbessern helfen,
um die Belastungsfaktoren zu verringern.
Das Funktionsschema der Stimmgebung stellt die Komponenten zur
Erzeugung eines Klangs und seiner Resonanzbereiche dar. Für
die therapeutische Arbeit bedeutet dies eine Vielzahl von Ansatzpunkten,
der Stimme wieder zu alter Leistungsfähigkeit zu verhelfen.
Die menschliche Stimme teilt sich in zwei funktionale Hauptbereiche
auf: in die Vollstimmfunktion – auch Bruststimme genannt – und
in die Randstimmmfunktion – auch als Kopfstimme bezeichnet.
Ein ausgewogenes Verhältnis in den verschiedenen Frequenzbereichen
ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Klangbildung.
Einen wesentlichen Aspekt stellt die notwendige Entlastung der
Stimmlippen und des Kehlkopfes dar, der zum einen durch den Luftdruck
aus den Lungen und zum anderen durch die Einstellung der resonatorischen
Ansatzräume überlastet werden kann. Die Herstellung einer
ausgeglichenen elastischen Stimmlippenspannung wirkt positiv auf
das gesamte Stimmgebungssystem. Eine unzureichend funktionierende
sängerische Atmung oder Fehlkonfigurationen der Ansatzräume
belasten das zwischen ihnen liegende System. Die schon genannten
möglichen Störurgen und Erkrankungen sind Folge unausgeglichener
Elastizität im Kehlkopf.
Eine Möglichkeit der Wiederherstellung eines gut funktionierenden
Stimmgebungssystems ist die Aktivierung der Randstimmenfunktion.
Ihre optimale Einstellung ist Voraussetzung für eine gesunde
Singweise. Trainieren lässt sie sich durch spezielle Übungen,
die eine Aktivierung des jeweils innenliegenden Teils der Stimmlippen
nach sich zieht. Des Weiteren wird die Kaustimme durch entsprechende
Lektionen in tiefer Lage trainiert, um auch andere Bereiche in
ihrem Schwingungsverhalten neu zu organisieren. Die sich nun anschließenden Übungen
im Wechsel von Randstimm- und Vollstimmfunktion über einen
größeren Intervallabstand unter Beachtung einer optimal
eingestellten Disposition sowie Atem- und Stützfunktion führen
zu einem günstig gestalteten Masse-Spannungsverhältnis
innerhalb der Stimmlippen. Auf diese Weise kann ihre erforderliche
Elastizität erlangt und die sängerische Leistungsfähigkeit
Schritt für Schritt verbessert werden.
Die gesangspädagogische Rehabilitation stellt also eine therapeutische
Möglichkeit zur Gesundung der Sängerstimme dar. In jeder
Sängerlaufbahn kommt es zu Krisen. Der offene und selbstkritische
Umgang mit auftretenden Störungen eröffnet Betroffenen
die Chance, durch die aktive Unterstützung eines Phoniaters
und des Gesangspädagogen/Therapeuten die Fehleinstellungen
im Stimmapparat durch zielorientierte Therapien korrigieren zu
können. Das Ignorieren auftretender Probleme sowie die Angst,
sich vertrauensvoll Hilfe zu suchen, können zu Muskelbewegungsautomatismen
führen, die irreparabel sind.
In Dresden ist es mit dem Studio für Stimmforschung an der
Hochschule für Musik Carl Maria von Weber gelungen, eine interdisziplinäre
Dispensairebetreuung aufzubauen, die es Sängern, Pädagogen
und Schauspielern ermög-licht, bei Bedarf innerhalb kürzester
Zeit therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Dirk Mürbe und Hartmut Zabel
|