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Heilung über den indirekten Weg

Die Alexander-Technik im künstlerischen Beruf · Von Rudolf Kratzert

Die Tatsache, dass unzählige Musiker und Tänzer chronisch unter psycho-physischen Funktionsstörungen leiden, ist schon seit längerem bekannt. Manche von ihnen leiden still und nehmen Ängste, Schmerzen und Insuffizienzgefühle als berufsbedingt hin. Viele aber suchen Rat und Hilfe bei Ärzten und Therapeuten aller Couleur. Auch die Alexander-Technik ist seit einigen Jahrzehnten unter Musikern, Tänzern, Schauspielern und Sportlern nicht mehr ganz unbekannt als Teil des Angebots, berufliche Überforderungssymptome überwinden zu lernen oder – besser noch – gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Worin aber unterscheidet sich die von dem australischen Schauspieler Frederick Matthias Alexander (1869-1955) entwickelte und nach ihm benannte Technik von allen anderen der angebotenen Prozeduren? Zunächst allein schon dadurch, dass sie keine Therapie ist. Vielmehr ist sie eine beliebig weit entwickelbare Erziehung zu einem umfassenden besseren Selbst-Gebrauch. Denn Funktionsstörungen sind immer Ausdruck von Störungen der ganzen Person und nicht einfach partielle Symptome. Diese Erkenntnis des noch sehr jungen Rezitators und Alleinunterhalters F.M. Alexander, der damals unter Stimmproblemen bei seinen öffentlichen One-Man-Shows litt, bildet den gedanklichen Kern bei seiner Entdeckungsreise in die funktionalen Zusammenhänge menschlichen Verhaltens.

Ganzheitlicher Ansatz

Alexander fand in zehnjähriger geduldiger Selbstbeobachtung und Analyse heraus, dass alles, was wir tun und denken, nicht nur nach außen wirkt, sondern immer auch Rückwirkungen auf uns selbst hat, und zwar auf unsere gesamte Person. Auch wurde ihm klar, dass es keine Handlungen oder auch nur Entscheidungen gibt, die etwa rein physischen oder rein mentalen Ursprungs wären, sondern dass sie immer beiden Bereichen entstammen – wenngleich mit unterschiedlichem Schwerpunkt. Er gab daher schon zu Beginn der Arbeit an seiner Selbst-Verbesserung die herkömmliche Unterteilung des Menschen in einen physischen und einen mentalen Teil auf.

 
Rudolf Kratzert. Foto: Privat
 

Rudolf Kratzert. Foto: Privat

 

Ihm wurde außerdem zunehmend klar, dass Verhaltensänderungen nicht auf dem Weg einer direkten Korrektur möglich sind. Denn alle unsere Korrekturversuche unternehmen wir mit exakt denselben Mitteln, die für uns charakteristisch sind, die uns aber ja in unseren als fehlerhaft erkannten Zustand geführt haben, womit wir – ganz entgegen unserer Absicht – unsere Fehler sogar noch verstärken.

Die Lösung kann also nur darin liegen, dass wir mit neuen und besseren Mitteln ans Werk gehen. Diese erhalten wir jedoch nur dann, wenn es uns gelingt, nicht mehr den gewohnten Stimuli aus unserem Nervensystem zu folgen, sondern ihnen ein Nein entgegen zu setzen. Nötig sind also ein bewusstes Innehalten und ein Stoppen der uns eigenen Gewohnheiten. Vorher sind wir nicht frei für alternative Handlungsweisen.

Dieses Unterlassen gewohnheitsmäßiger Antworten auf neuronale Stimuli lässt sich aber nur durch Experimente, nicht jedoch durch standardisierte Übungen erlernen. Denn Übungen sind zwar oft unerlässlich, um erwünschte Verhaltensmuster zu etablieren und zu sichern, nicht aber, um unerwünschte abzubauen. Ein neuer und besserer Gebrauch unserer Funktionen ist also nur durch das bewusste Unterlassen des alten und fehlerhaften Gebrauchs erreichbar.

Weniger statt mehr

Diese Methode des „indirekten Weges“, wie Alexander seine Technik umschreibt, ist durchaus verschieden von allen anderen mir bekannten Methoden. Denn zwar sind die meisten von uns gerne bereit, ihr Verhalten zu ändern; dass es hierfür jedoch nicht so sehr auf das Lernen von etwas Neuem, sondern vielmehr auf das Unterlassen von Altem ankommt, ja, dass Neues überhaupt erst dadurch gelingen kann – dies ist eine in unserer Kultur kaum vorhandene Erkenntnis. Statt uns zu fragen, was wir falsch machen, wäre es meistens viel vorteilhafter, wenn wir uns fragen würden, was wir zu viel machen. Uns ist oft überhaupt nicht klar, wie sehr wir auf unser jeweiliges Agieren re-agieren. Wenn wir wüssten, was wir weglassen, was wir vermeiden, was wir eliminieren sollten, dann hätten wir meistens schon den Schlüssel zu präziseren und zuverlässigeren Aktivitäten in der Hand.

 
Kurssituation mit Alexander-Technik. Foto: Samuel Fried
 

Kurssituation mit Alexander-Technik. Foto: Samuel Fried

 

Natürlich brauchen wir als ausübende Künstler klare Zielvorstellungen bei unserer Arbeit. Diese dürfen aber nicht dazu führen, dass unsere tägliche Arbeit durch den Willen, unsere Ziele unter allen Umständen zu erreichen, beeinträchtigt wird. Alexander konnte nachweisen, dass es unsere Zielstrebigkeit ist, die uns am meisten beim Erlernen neuer neuro-muskulärer Muster stört. Diese Ungeduld des Zielstrebens ist es, was uns immer wieder aufs Neue in die Falle unseres gewohnheitsmäßigen schlechten Gebrauchs unserer Funktionen tappen lässt. Für den „indirekten Weg“ bedürfen wir jedoch einer nie nachlassenden Geduld, bei allen unseren einzelnen Handlungsschritten unsere psycho-physische Balance zu be(ob)achten. Diese Fähigkeit erwächst nur allmählich. Sie entsteht sowohl durch unser langfristig eingeübtes Nein zu den gewohnten alten, unsere als ungünstig erkannten Handlungen hervorrufenden Stimuli, als auch durch den Empfang neuer und besserer Stimuli, die uns die Hände und Worte eines Alexander-Lehrers vermitteln können.

Obwohl der Weg zu einem besseren Selbstgebrauch aller unserer Funktionen lang ist, kann oft schon nach 20 bis 30 Lektionen eine deutliche Verbesserung des Gesamtzustandes eines Schülers der Alexander-Technik beobachtet werden. In den 22 Jahren meiner bisherigen Praxis ist es mir in zahlreichen Fällen gelungen, Menschen aller Berufe, aber – da ich selbst Musiker bin – ganz besonders auch Musikern, zu einer störungsfreien Arbeit zu verhelfen. Ihre bisherigen Behinderungen und Leiden haben sich durch den „indirekten Weg“ einfach aufgelöst. Die Alexander-Technik als Basis-Technik und damit als Hilfe zur Selbsthilfe kann prophylaktisch, aber in vielen Fällen auch noch nachträglich, die allgemein als mehr oder weniger unvermeidlich angesehene „déformation professionelle“ verhindern.

Opfer der Zielstrebigkeit

Ich denke, es ist Zeit für ein Umdenken. Alle herkömmlichen Trainingsmethoden, die mit künstlerischen oder sportlichen Aktivitäten zu tun haben, zeichnen sich durch Zielstrebigkeit aus. Viel soll viel helfen. Um ein Beispiel zu nennen: Vor vielleicht 12 Jahren las ich ein SPIEGEL-Gespräch mit Boris Becker, worin er sagte, dass er jetzt, um die gleiche Leistung wie vor zehn Jahren erbringen zu können, natürlich doppelt so viel trainieren müsse wie damals. Den SPIEGEL-Redakteuren fiel anscheinend nicht auf, wie absurd eine solche Aussage ist. Müsste ein sinnvolles Training nicht vielmehr methodisch so aufgebaut sein, dass man mit 30 Jahren sagen könnte: Jetzt muss ich natürlich nur noch halb so viel trainieren als ich dies mit 20 Jahren noch musste, um eine vergleichbare Leistung wie damals zu erbringen?

Für Tänzer und Musiker gilt dies natürlich genauso. Wenn wir also nicht Opfer unserer Zielstrebigkeit werden (oder bleiben) wollen, müssen die täglichen Prämissen unseres Trainings stimmen. Das bedeutet, dass wir jedes Mal schon vor unserer täglichen Arbeit uns nicht nur darüber im Klaren sein müssen, welche Mittel wir für unsere jeweiligen Arbeitsschritte einsetzen wollen, sondern in erster Linie darüber, welche Mittel wir garantiert nicht einsetzen werden bei unserer Arbeit. Diese ungewöhnliche Prioritätensetzung ist das Erfolgsgeheimnis bei jeder Art von Arbeit, ganz besonders aber bei der künstlerischen, kommt es doch bei ihr besonders auf Zuverlässigkeit und Genauigkeit an. Leider aber werden diese Ziele oft nur unter schwierigsten Prämissen angestrebt, nämlich mit psychischer und muskulärer Anstrengung. Dabei gelingen natürlich Höchstleistungen auf Dauer nur mit Leichtigkeit, ja man kann sogar sagen: Was uns nicht leicht fällt, ist nicht wirklich gekonnt.

Wir haben aber alle die Möglichkeit, neu anzufangen und unsere gewohnheitsmäßigen ungünstigen Verhaltensweisen durch bessere zu ersetzen. Dies gelingt uns jedoch nur dann, wenn wir bereit sind, den „indirekten Weg“ zu beschreiten – den Weg der Weigerung, gewohnheitsmäßigen Stimuli zu folgen.

Beispiel: Ein Oboist

Zum Schluss möchte ich aus meiner gegenwärtigen Arbeit kurz schildern, wie ein junger Schweizer Oboist, der mit unglaublicher Anstrengung auf seinem Instrument zu spielen pflegte, wohl auch, weil er annahm – und dies auch an unzähligen Beispielen erleben konnte –, dass Anstrengung ein wesentlicher Teil des Oboenspiels sei, in den letzten anderthalb Jahren gelernt hat, immer seltener den alten, falschen Stimuli seiner Spielgewohnheiten zu folgen. Inzwischen ist er in der Lage, lange Zeit ohne Schmerzen und Atemprobleme sein Instrument zu blasen und sich fast nur noch der Musik und ihrer Darstellung zu widmen.

Als er mir die ersten Male vorspielte, konstatierte ich folgende auffällige Symptome: Er stand mit stark gerundetem, sich während des Spiels immer mehr verkrümmendem Rücken da. Sein Becken war so weit nach vorne gedrückt, dass er viel Kraft verschwendete, um nicht nach hinten zu fallen. Entsprechend verkrampft waren daher auch seine Beine. Die Arme hielt er so, als ob er statt einer Oboe einen großen steinernen Gegenstand halten müsste. Sein Hals schwoll bedenklich an, seine Augen starrten ins Leere. Beim Ausatmen presste er den Bauch nach vorne und seinen Brustkorb nach unten. Nur weil er ein sehr kräftiger junger Mann ist, konnte er überhaupt unter diesen Umständen noch sein Instrument spielen.

Nachdem er in mehreren Alexander-Stunden gelernt hatte, allgemein besser und leichter zu stehen und seine Arme leichter anzuheben, konnten wir uns allmählich seinem Oboenspiel widmen. Bei der Analyse seiner Atmung fiel mir auf, dass er – was einer der am häufigsten auftretenden Irrtümer ist – glaubte, dass Ausatmen eine Abwärtsbewegung im Bauch sei, ja dass es überhaupt einer Anstrengung von Bauchmuskeln bedürfe. Erst als ich ihn in Experimenten davon überzeugen konnte, dass Ein- und Ausatmen am einfachsten dann funktionieren, wenn sie als sich gegenseitig bedingende Reflexe arbeiten dürfen und dies aber nur möglich ist, wenn die Zwischenrippenmuskulatur nicht verkrampft ist, sodass die Bewegung des Zwerchfells vor allem von der Bewegung der Rippen unterstützt wird, da konnte er mehr und mehr seine falschen Atemgewohnheiten ablegen lernen. Die Glücksgefühle, die ihn seitdem beim Oboenspiel begleiten, werden natürlich noch verstärkt durch das viel bessere klangliche Niveau, das er inzwischen ganz nebenbei erreicht hat.

Rudolf Kratzert

Rudolf Kratzert ist Pianist, Alexander-Lehrer und Klavier-Ausbilder und lebt in Wiesloch.

 

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