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Das Kollektiv als Protagonist
„Aus einem Totenhaus“ in Düsseldorf und Hannover · Von
Christian Tepe Leos Janáceks 1930 posthum uraufgeführte Oper „Aus
einem Totenhaus“ kennt keine Helden und weist keine individuelle
Hauptrolle auf, der Protagonist ist vielmehr das Häftlingskollektiv
eines sibirischen Strafgefangenenlagers. Den unablässig auf
der Bühne agierenden Männerchor stellt das Werk darstellerisch
vor völlig neuartige und extreme Herausforderungen. Und obwohl
Rudolf Kloibers „Handbuch der Oper“ den Anteil des
Chores lediglich als eine mittlere Partie klassifiziert, verlangt
Janácek den Chorsängern auch vokal ein breit gefächertes
Ausdrucksspektrum ab, das von resignativen Verzweiflungsseufzern
bis hin zu hymnischen Aufgipfelungen von fiebriger Ekstase reicht.
Mit seinem musiktheatralischen Vermächtnis „enthierarchisiert“ Janácek,
wie Hans-Klaus Jungheinrich anmerkt, „das Verhältnis
zwischen Einzelnen und Masse; diese ist der einem einheitlichen
Lagerschicksal unterworfene Gesamtakteur“. Aus der progressiven
Werkdramaturgie zieht Regisseur Barrie Kosky für seine Inszenierung
an der Staatsoper Hannover bahnbrechende Konsequenzen. Seine Regiearbeit
ist eine avantgardistische Tat, ein Markstein in der Inszenierungsgeschichte
des Stückes. Die blockartige Totalität des Lagerdaseins
beraubt alle Insassen – die Sträflinge und nicht minder
die Wachen – ihrer Würde und Individualität. Wo
die Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft eingezogen ist,
da lässt sich auch nicht länger ein Gefangenenmilieu
in einem Umfeld realistischer Requisiten schildern. Was Kosky stattdessen
zeigt, ist ein statischer, monadisch geschlossener
Zustand von Gesellschaft. Wohl niemals zuvor dürfte der Aspekt
der Dekomposition des melodischen Gewebes in Janáceks Partitur,
das Auseinanderbersten des Ganzen in eine unverbundene Reihung
und Schichtung ansatzloser Motivstümpfe, so kompromisslos
in ein lapidares szenisches Kolossaltableau umgesetzt worden sein.
In schäbigen Jeans und Pullovern hocken die Menschen am Anfang
und am Ende auf einer grauen, schrundigen Betonfläche. Was
sich dazwischen ereignet, enthält alles, wozu Menschen in
ihrer Naivität wie in ihrer Rabiatheit, in ihrem Zynismus
wie in ihrer Verletzbarkeit fähig sind. Kosky verweigert den
Geschehnissen jedoch strikt eine überhöhende oder gar
verklärende Sinnzuschreibung. Selbst den rudimentären
Handlungsrahmen, den Janácek durch die Ankunft und Entlassung
des politischen Häftlings Gorjantschikow andeutet, verlegt
Kosky noch in den Binnenbereich dieses menschlichen Infernos. Seelische Dramatik
Die Effekte eines solchen Theatercoups sind außergewöhnlich.
Dostojewski, dessen protokollarischen Bericht über das Leben
in einem sibirischen Zuchthaus Janácek als Substrat seiner
Oper nutzte, konnte vielleicht noch zu Recht sagen, dass das Lager
ein besonderer Ort sei, der keine Ähnlichkeit mit der äußeren
Welt aufweise. In der Totalität von Koskys Adaptation des „Totenhauses“ wird
diese Differenz vollständig nivelliert. Gerade das „Totenhaus“ wird
zu einem genauen Abbild der gesellschaftlichen Realität. Seine
bemitleidenswerten Bewohner sind ganz normale Menschen von heute;
die desperaten Mitglieder einer utopiefreien, zum Fatalismus neigenden
Welt, die ohne Ausgang zu sein scheint. Und doch dringt in dieses
hermetische Dasein ein Hoffnungsstrahl, wenn auch nicht von außen
durch eine politische oder sonstige Heilsinstanz. Er kommt aus
dem Inneren der Menschen selbst. Für ein paar Augenblicke
treten in Janáceks Oper immer wieder einzelne Häftlinge
stellvertretend aus der Anonymität der Masse hervor, um ihre
Lebensbeichte abzulegen. Eine ungeheure seelische Dramatik durchpulst
bei Kosky diese verzweifelten Selbstoffenbarungen schuldig gewordenen,
verpfuschten Lebens, die gleichsam wie ein negativer Abdruck von
Glück und Schönheit wirken. In Hannover sind das die
ergreifenden Höhepunkte einer grandiosen Ensembleleistung.
Die wilde Mitteilungssehnsucht der gedemütigten Menschen findet
bei feinsinnigster vokaler Differenzierungsarbeit eine überwältigend
ausdrucksintensive Präsenz der Darstellung von fast unerträglicher
Spannung.
Man müsste aber auch jeden einzelnen der überaus hingebungsvoll
spielenden Chorsänger nennen und ausführlich würdigen,
um den aufwühlenden Gesamteindruck der Produktion zumindest
annähernd wiedergeben zu können. Chordirektor Dan Ratiu
hat den Herrenchor der Staatsoper gleichermaßen gut für
die flüsternde Schicksalsergebenheit der Sträflinge wie
für ihre kurzatmigen, herb-expressiven Aufwallungen präpariert.
Das Niedersächsische Staatsorchester unter der Leitung von
Generalmusikdirektor Wolfgang Bozic steigert sich geradezu in einen
Janácek-Rausch mit letztmöglichem Zuwachs an Präzision
und Schärfe. Diese Interpretation sprüht vor vulkanischer
Energie und ruft unwillkürlich jene Worte in Erinnerung, mit
denen der Komponist seine Gemütsverfassung während des
Arbeitens am „Totenhaus“ illustrierte: „Ich bin
dabei dermaßen aufgeregt, dass mein Blut herausschießen
möchte.“ Dezent und routiniert Durchaus dezenter und gemessener geht der scheidende Chefdirigent
John Fiore in Düsseldorf zu Werke, wo mit „Aus einem
Totenhaus“ zum Ende der Ära von Generalintendant Tobias
Richter nun der zweite Janácek-Zyklus an der Deutschen Oper
am Rhein komplettiert worden ist. Fiore akzentuiert den mährischen
Tonfall der Musik, ventiliert ihre tänzerischen Aromen, hütet
sich dabei aber vor markanten Zuspitzungen oder schroffen Übersteigerungen. Überhaupt
betont Fiores gelegentlich eine Spur zu routiniert daherkommende
Herangehensweise stärker die formbildenden Kräfte des
janácekschen Idioms, während man sonst in letzter Zeit – wie
Wolfgang Bozic in Hannover – gerne die Zersplitterung, Erosion
und Zerklüftung des Materials hervorkehrt.
Für den Chor ermöglicht Fiores Werkauffassung einen weitaus
würzigeren, slawisch-inbrünstigeren Klang von plastischer
Emotionalität (Choreinstudierung: Gerhard Michalski). Schade
nur, dass sowohl im ersten als auch im dritten Akt einige der erschütterndsten
Einsätze der Männerchöre aus dem Off kommen, wodurch
sie ihre unvergleichliche psychische Spannung verlieren. Einzelne
Sänger der kleineren Solopartien neigen anfangs dazu, die
sprachmelodischen Exklamationen zur veristischen Grimasse hin zu überziehen.
Der Gesamteindruck einer vorzüglichen Sängerleistung
mit großem Sentiment und reichen psychischen Schattierungen
der individuellen Darbietungen wird dadurch aber kaum geschmälert.
Regisseur Stein Winge präsentiert im zwar sachdienlichen,
doch zugleich ratlos und unentschieden wirkenden Bühnenbild
von Herbert Murauer eine handwerklich solide Arbeit mit klarer,
jedoch auch konventionell zuordnender Charakterisierung von Sträflingen
und Wachen als Opfern und Tätern. Winges Chorführung
bleibt recht blass. Da gibt es des Öfteren leeres Herumgerenne.
Insgesamt fehlt es der Produktion an Konsequenz und Innovation.
Die bezwingende Wirkung musiktheatralischer Suggestion, wie sie
gerade für die Aufführung einer Janácek-Oper unverzichtbar
ist, will sich nicht so recht einstellen.
Christian Tepe
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