|
Salvatore Sciarrino und Kafka
Uraufführung von „La porta della legge“ in Wuppertal · Von
Andreas Hauff Franz Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“ aus dem Roman „Der
Prozess“ wird oft als existentielles Gleichnis gedeutet.
Salvatore Sciarrino versteht seine neueste Oper „La porta
della legge“ („Das Tor zum Gesetz”) jedoch vor
allem gesellschaftskritisch, als Kommentar zu italienischen Zuständen.
Uraufgeführt wurde das Werk in Deutschland: am Wuppertaler
Opernhaus.
Italien habe, schreibt Sciarrino im Werkkommentar, „das absurde
Universum Kafkas zur Perfektion getrieben“. Im Namen der
Effizienz lege sich die Bürokratie lähmend über
das Land, überdeckt durch eine höhnische Inszenierung
inmitten von „Folklore, Müll-Fernsehen und wirklichem
Müll.“ Ist Deutschland davon so weit? Man stelle sich
eine Vorort-Post vor: Parallel zu kräftiger Werbung hat man
im Namen von Entflechtung, Entbürokratisierung und Kundenorientierung
die Telefonzelle abmontiert, den Postbankdienst abgeschafft, die
Packstation und den zweiten Kundenschalter abgebaut, die Öffnungszeiten
reduziert. Trotzdem stehen immer noch Menschen an – bis auf
die Straße, eisern schweigend, mit zusammengebissenen Zähnen.
Kurt Tucholsky schrieb 1930: „Das deutsche Schicksal: Vor
einem Schalter zu stehen. Das deutsche Ideal: Hinter einem Schalter
zu sitzen.“ Heute heißt der Schalter Counter, Hotline
oder Amtsblatt.
In Johannes Weigands packender Wuppertaler Inszenierung, die
der Komponist in den letzten Tagen vor der Uraufführung begleitet
hat, lehnt sich vor einer schmalen Öffnung in der Mitte ein
wohlgenährter Türhüter mit grauem Anzug, weißem
Hemd und Krawatte bequem auf einen Stuhl. Seitlich steht, hager
und leicht geduckt, Anzug und Hut schwarz, weißes Hemd ohne
Krawatte, der „Mann vom Lande“. Wie im Zeitraffer läuft
die Handlung ab. Während sich das Tor unmerklich in die Breite
weitet und der Hintergrund heller wird, überlässt der
Wächter dem Wartenden seinen Stuhl, zieht sich zum Spazierengehen
den Mantel an und lässt den Durchgang aus dem Auge. Je größer
der Radius des Bewachers wird, desto kleiner wird der Spielraum
des Wartenden. Späht er zuerst noch mit schüchterner
Neugier durch die Öffnung, so setzt er sich bald müde
hin. Am Ende sinkt er, während sich der Hintergrund verdunkelt,
ganz auf den Boden. Dem Sterbenden spricht der Türhüter
ins Ohr, der Eingang sei nur für ihn bestimmt gewesen.
Sciarrinos Komposition entfaltet auch hier eine leise, geräuschhafte
Klangwelt. Zwei kurze flehende Floskeln von Bratsche und Cello
in den ersten Takten charakterisieren die Grundsituation. Ihnen
antworten leise, markante Bläsereinsätze. Im Hintergrund
vibrieren fast fortwährend Luftgeräusche der Bläser
und ein dünnes Donnerblech. „Der Klang des Röchelns
bezeichnet und bestimmt diese Oper“, beschreibt der Komponist
die beklemmende Atmosphäre, die das Sinfonieorchester Wuppertal
unter Hilary Griffiths überzeugend realisiert. Die Singstimmen
sind in rezitativischem Parlando gehalten: Der mit einem Tenor
besetzte Bittsteller eher verhuscht und flehentlich, der Bass des
Türhüters behäbiger und selbstbewusst – eine
subtile Variante der Konstellation „Samuel Goldenberg und
Schmuyle“ aus Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“.
Der gesungene Text folgt mit Aussparungen und Varianten Kafkas
Vorlage.
La porta della legge“ trägt den Untertitel „quasi
un monologo circolare“ („gleichsam ein kreisender Monolog“).
Zwei dramaturgische Kunstgriffe, kompositorisch konsequent durchgeformt
und beeindruckend unterstützt von Ausstattung, Film und Licht,
machen aus Literaturvertonung Gesellschaftskritik. In der Sterbeszene
des Bittstellers („Mann 1“ im Personenverzeichnis)
erscheint hinter dem Türhüter ein Schatten: „Mann
2“, dem ersten ähnlich, begehrt Einlass, nur diesmal
in Richtung Publikum. Ziemlich exakt wiederholt sich die erste
Hälfte. Geändert hat sich die Orchestrierung, Gesangslinien
und Instrumentalstimmen sind zum Teil vertauscht. Dialog und Bewegungen
werden abgewandelt, und den Bittsteller übernimmt ein Countertenor.
Klangbild und szenischer Gestus dieser zweiten Runde wirken zugespitzt – als
ob beide Seiten ihre Rolle weiter verinnerlicht hätten. Immer
enger wird nun das Tor, bis es sich vor der Schlussszene der Episode
schließt. Sängerisch und darstellerisch wirkt Gerson
Sales (Mann 2) im intensiven Zusammenspiel mit Michael Tews (Türhüter)
ebenso souverän wie zuvor Ekkehard Abele (Mann 1).
Anstelle des Schlussvorhangs folgt ein kurzes Zwischenspiel, getragen
von einem pulsierenden Signalton, der das Besetztzeichen italienischer
Telefone zitiert. Dann erblickt man die beiden Bittsteller in Konzertkleidung,
wie sie ihre Partie gemeinsam singen. Gleichzeitig erscheinen sie
kostümiert als Videoprojektion in einem Paternoster-Aufzug,
wie man ihn in alten Bürohochhäusern findet: Erst einfach,
dann doppelt, schließlich vervielfacht in 12 parallel hinauf-
und hinunterfahrenden Ketten von Paternoster-Kabinen. Ein beeindruckendes
Zusammenspiel von Ausstattung, Film und Licht. Kafka ist ewig kreisender
Alltag geworden – es sei denn, man wagt mutig den Sprung
aus der Kabine.
Andreas Hauff
|