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Jiri Kyliáns Abschieds-Performance
„Zugvögel“ am Bayerischen Staatsballett · Von
Malve Gradinger Es sei sein Schwanengesang, seine letzte große Arbeit, hatte
Jiri Kylián vorab preisgegeben. Sicher keine Koketterie
von Europas führendem Modern-Dance-Tanzschöpfer, der
nach seinem Start in John Crankos Stuttgarter Ballett (ab 1968
zunächst als Tänzer) ab 1970 bis heute über 100
Werke kreiert hat – zwei Drittel dieses erstaunlichen und
vielfältig-farbigen Oeuvres allein für das Nederlands
Dans Theater (NDT), dessen Leitung er von 1975 bis 1999 innehatte.
Im Oktober diesen Jahres will er sich auch als NDT-Hauschoreograf
verabschieden. Und ein Adieu ist tatsächlich auch diese fürs
Bayerische Staatsballett entworfene Hommage an die Künstler,
Bühnenarbeiter und auch Zuschauer, die das Münchner Nationaltheater
durchziehen, für Kylián alle: „Zugvögel“.
Aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums seines Ensembles,
noch dazu als Ballettwochenauftakt, hatte sich Ivan Liska ein abendfüllendes
Stück gewünscht – was aber nie so recht Kyliáns
Metier gewesen ist. Also hat er, man könnte es Ausweichmanöver
nennen, zunächst einmal die Zuschauer in die von Choreografin
Karine Guizzo mit vielerlei exotischen (Tänzer-)Vogelwesen
belebten Gänge, Nischen und Depots der Unterbühne geleitet,
um sie dann, ungewohnt, durch eine Öffnung im Bühnenboden,
in das von virtuellen Möwen-Schwärmen durchflatterte
Parkett zu entlassen. Der Ansturm auf diese unterirdische Begehung, wenn auch für
Kenner solcher Raum-Inszenierungen verzichtbar, war in München
enorm. Aus logistischen Gründen können jedoch nur 800
bis 1.000 Parcours-Gänger, und diese nur in kleinen Gruppen,
eingelassen werden. Was Vorstellungs-Verspätung und ergo Verärgerung
im wartenden Publikum verursacht. Auch Kyliáns Mischung
aus Tanz und Film wurde vom weniger erlebnisoffenen Teil des Publikums
beknurrt: Der Eintritt sei eine teure Kinokarte gewesen.
Aber was für ein wunderschöner, berührender Film
ist dem Duo Kylián und Boris Pavel Conen da gelungen: Eine
hingewehte Schwarz-Weiß-Traumgeschichte, nah an Ingmar Bergman, über
eine alternde Tänzerin – ausdrucksstark Kyliáns
Ehefrau, die 58-jährige Sabine Kupferberg –, die in
einem kleinen Mädchen die eigene unwiederbringliche Kindheit
und Jugend sieht. Ein zart-bitterer Abschied von der Karriere,
eingefangen in surrealistischen Bildern am holländischen Strand
und in Foyers, Logen und im Kostümfundus des Münchner
Nationaltheaters. Und was zwischen den vier zugespielten Filmsequenzen
passiert, ist nun wirklich Tanz in allen Spielarten.
Zunächst
einmal Kylián, wie man ihn kennt, aus den Strawinsky-Balletten „Psalmensinfonie“ und „Svadebka“,
den Berio- und Martinu-Stücken „Dream Dances“ und „Feldmesse“,
dem von den australischen Aborigines inspirierten „Stamping
Ground“ – euphorisierend. Und auch jetzt wieder wunderbar
viel Energie, Dynamik, eine Fülle an Körperformen und
Schritten – und immer aus der Quelle des Gefühls schöpfend.
Wie junge Wildpferde preschen die Tänzer, einzeln oder in
Gruppen, durch die hohen losen Vorhangstreifen der Bühneneinfassung
(Michael Simon). In ihrem raumgreifenden Laufen, den eingeflochtenen
fußengen „Bleistift-Pirouetten“ und Sprüngen
liegt eine wilde selbstverwirklichende Rasanz. Wenn William Forsythes
postmodern zerfallende Neoklassik einen Existenzpessimismus spiegelt,
dann prallt uns hier jugendlich kämpferischer Lebenswille
entgegen. Wie glücksgedopt, nicht zuletzt von Kyliáns
so menschlicher Art, mit Tänzern umzugehen, wirft sich das
Ensemble in diesen Stil, in den der Meister kultiviert alle neueren
Strömungen integriert hat: die kleinteiligen Tanztheater-Handgesten
wie den Breakdance, die postmodern verschrägte Neoklassik
wie den bildnerischen Tanz, der die Bauhaus-Tänze der 20er-Jahre
fortschreibt.
Mindestens drei Meter hoch aufragender, keck mitwippender
Kopfputz aus Luftkissen und riesige sich blähende Fallschirm-Mäntel
(von Modekünstler Yoshiki Hishinuma) verwandeln schreitende
und laufende Menschen in seltsame Paradiesvögel und Gleitflügler.
Und im Finale zu Ravels melancholisch herbem „La Valse“ nehmen
die Herren bodennahe Figuren und Hebungen in derart drehendem Schwung,
dass die Partnerinnen in und auf ihren Armen zu fliegen scheinen.
All diese (Tanz-)Lust ist vergänglich, das will der 62-jährige
Kylián ganz deutlich vermitteln. Darum der Film. Darum auch
ein von wisperklingenden Zauberwaldgeräuschen (Dirk Haubrich)
umrauntes „älteres“ Paar als die immer präsenten „Schatten
des Alters“. Vom großen Kylián, der den europäischen Modern
Dance maßgeblich geprägt hat, der mit einer Junior Company
und einer Senior Company für Tänzer über 40 (letztere
2006 aus finanziellen Gründen aufgelöst) international
Trends und Maßstäbe setzte, von ihm jetzt dieses „Zugvögel“ im
Repertoire zu haben, ist auf jeden Fall ein Zugewinn.
Malve Gradinger |