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Begreifen, was radikal ist
Merce Cunningham zum 90. Geburtstag · Von Vesna Mlakar Merce Cunningham ist einer, der vom Tanz nicht lassen kann. Das
bestätigt auch Robert Swinston, seit 1980 Mitglied in der
Compagnie und als langjähriger Probenleiter so etwas wie Cunninghams „rechte
Hand“: „Merce ist weniger rastlos als neugierig. Er
hat einen unstillbaren Drang, vorwärts zu gehen und Neues
zu kreieren. Tanzbewegungen zu erfinden, ist schlichtweg eine Notwendigkeit
für ihn.“
Trotz schwerer Arthritis, die ihn in den Rollstuhl zwingt, leitet
er in seinem New Yorker Studio in der Bethune Street 55 immer noch
selbst Trainingsklassen. Zwar kann er seine kinetischen Ideen nicht
mehr durch eigenen physischen Einsatz anschaulich machen, dafür
geht er andere Wege, um die Tänzer anzuleiten. Statt – wie
man vielleicht vermuten könnte – die 14 Interpreten
seiner Merce Cunningham Dance Company improvisieren zu lassen,
gibt er ihnen bestimmte Dinge oder Aufgaben vor. Dann fügt
er in der Entstehungsphase von Tanzsequenzen Elemente hinzu oder
lässt Details weg. Und das alles ohne die später in den
Aufführungen hinzukommende Musik. „Hier im Studio begleitet
ein Komponist, ein Pianist oder ein Trommler unser Training (technical
class). Wenn wir auf Tournee sind“, so erzählt Swinston, „klatscht
der Trainingsleiter in die Hände. Proben finden immer in absoluter
Stille statt.“ Verschworene Gemeinschaft
Keinerlei Hinweis findet sich am Eingang zum Westbeth Artist’s
Housing, wo im obersten Stockwerk hinter großen Fenstern
seit den 1970er-Jahren eine verschworene Gemeinschaft auf relativ
begrenztem Raum Cunninghams immer noch wachsendes choreo-grafisches
Erbe pflegt. Wer hierher kommt, kennt sich aus, gehört zur
Familie – oder hat sich zuvor im Internet kundig gemacht.
Im September 2008 startete der ehemals virtuose Tänzer und
weltbedeutende Choreograf unter dem Motto „Mondays with Merce“ auf
der compagnieeigenen Website www.merce.org sogar ein neues Pilotprojekt,
das in Video-Episoden jedem den Zugang zu seinen Meisterklassen öffnet
und Einblicke in seine Probenarbeit ermöglicht.
Seine Tanzausbildung begann Cunningham 1931 mit Kursen in Stepp-,
Volks- und Gesellschaftstanz. Später studierte er zuerst Schauspiel,
dann Tanz an der Cornish School in Seattle (1937-39), wo er seinen
späteren Lebensgefährten und künstlerischen Partner,
den Komponisten John Cage (1912-1992) kennen lernte. Außerdem
besuchte Merce die Bennington Summer School of Dance im Mills College
(Kalifornien). Hier entdeckte ihn Martha Graham und nahm ihn in
ihre New Yorker Dance Company auf. Cunningham kreierte an ihrer
Seite von 1939 bis 1945 Rollen in Werken wie „Every Soul
is a Circus“ (1939), „El Penitente“ (1940), „Letter
to the World“ (1940) und „Appalachian Spring“ (1944).
1942 präsentierte Cunningham seine ersten eigenen Choreografien
zu Musik von Cage. Sein Solo-Abend-Debüt folgte 1944 und 1948
wagte er als freier Choreograf seine erste Amerika-Tournee. In
dieser Zeit begann er auch am Black Mountain College in North Carolina – einem
Treffpunkt amerikanischer Avantgarde-Künstler – zu unterrichten.
Gemeinsam mit Cage suchte er den Kontakt vor allem zu Kollegen
aus der Bildenden Kunst. Aus persönlichen Bekanntschaften
resultierten in den 1960er- und 1970er-Jahren professionelle Kooperationen,
die der Ästhetik des Balletts ganz neue Impulse verliehen.
So arbeitete Cunningham unter anderem mit Robert Rauschenberg,
Andy Warhol, Frank Stella, Jasper Johns, Robert Morris und Mark
Lancaster zusammen, die unverwechselbare Bühnenräume
für seine Stücke schufen. Cunningham und Cage
Ein frühes Projekt – und zugleich die erste größere
Produktion von zukunftsweisender Bedeutung der insgesamt 50 Jahre
dauernden intensiven Zusammenarbeit von Cunningham und Cage – war
der Einakter „The Seasons“. Cage schwebte eine zyklisch
angelegte Komposition vor. Im Verlauf des Entstehungsprozesses
formte sich daraus das eigentliche Thema: die indische Jahreszeitenmythologie.
Damit leiteten die beiden Autoren ihre künstlerische Beschäftigung
mit östlichen Philosophien und dem Zen-Buddhismus ein, die
Cunningham Anfang der 1950er-Jahre zur Anwendung des Zufallsprinzips
für seine Choreografien führte.
1952 führten Cage und Cunningham, unterstützt von Rauschenberg,
David Tudor, Charles Olson und M.C. Richards, ein Event durch,
bei dem verschiedene künstlerische Disziplinen zum Tragen
kamen: eines der ersten Happenings überhaupt. Im Sommer darauf
gründete Cunningham die Merce Cunningham Dance Company, in
der er bis in die 1990er-Jahre hinein selbst als Interpret mitwirkte
und choreografisch die Unabhängigkeit von Tanz, Musik und
Kunst im Bühnentanzwerk propagierte. „Die meisten Choreografen
erarbeiten ihre Stücke zu Musik. Sie übernehmen also
eine vorhandene Struktur – wobei die Musik vom Mittelalter über
Barock und Klassik bis ins 21. Jahrhundert ihre eigene Entwicklung
durchschritten hat, die nichts mit dem Tanz an sich zu tun hat.
Cunningham dagegen erschafft seine eigenen (Zeit-)Strukturen, die
nicht mit der Musik in Zusammenhang stehen. Es gibt eine Verbindung
zwischen dem Körper und dem Raum, aber wir Tänzer sind
auf uns selbst gestellt, unabhängig von Musik oder einer inhaltgebenden
Story. Tanz pur! Man muss begreifen, wie radikal das ist!“ (Swinston)
Im Zuge einer mathematisch-physikalischen Auseinandersetzung
mit dem Tanz verzichtete Cunningham zunehmend auf klar angeordnete
Formationen und eine Frontalausrichtung hin zum Zuschauer, ließ die
Tänzer asynchron und auch in der Gruppe ganz individualistisch
auftreten. Damit warf er alte Sehgewohnheiten über den Haufen
und sorgte – vor allem bei jenen, die seine Stücke zum
ersten Mal sahen – für Verstörung. Seit 1991 bedient
Cunningham sich im Kreationsprozess eines besonderen Computerprogramms: „Life
Forms“ (heute: „DanceForms“). Es erlaubt ihm
unter anderem, tänzerische Bewegungen am Bildschirm zu generieren – eine
Methode, die ihm das Choreografieren auch ohne Mobilität weiterhin
ermöglicht. „Mich hat immer interessiert, wie eine Bewegung
funktioniert und nicht, welche Empfindungen sie einem verschafft;
wie man von einer Position in die andere kommt und die Bewegung
von da aus weitergeht.“ In nahezu 200 Werken konfrontierte
Cunningham Tänzer und Publikum mit den neuesten Kunstströmungen
seiner Zeit. Ans Aufhören denkt er nicht: Pünktlich zu
seinem 90. Geburtstag am 16. April 2009 feierte sein jüngstes
abendfüllendes Werk an der Brooklyn Academy of Music in New
York Premiere. Der Titel?
„Nearly Ninety“!
Vesna Mlakar |