Verführt unter dem Fallbeil
„Marie Victoire“ an der Deutschen Oper Berlin · Von
Frieder Reininghaus
Marie Victoire“ gehört zu den Nachzüglerinnen
der Schreckens- und Rettungsopern. Das Werk entstand am Vorabend
des ersten Weltkriegs im Gefolge von Giordanos „Andrea Chénier“ und
Puccinis „Tosca“. Die vierte der insgesamt zehn Arbeiten
Respighis für die Musikbühne stellt ein Gegenmodell zu
Beethovens „Fidelio“ dar: Während ihr Mann den
jakobinischen Greiftrupps entkommen kann, wird die bretonische
Landadlige Marie 1794 verhaftet. Sie soll guillotiniert werden.
Im fidelen Gefängnis, in dem auch ein Singspiel einstudiert
und getanzt wird, erhört sie wenige Stunden vor dem Exekutionstermin
einen Freund ihres Mannes. Da Robespierre jedoch weggeputscht wird
und selbst „in den Sack niesen“ muss, überlebt
sie – mit Schuldgefühlen. Sie eröffnet in Paris
eine Hutmacherei, zieht einen Sohn auf. Durch Zufall treffen die
beiden Männer ihres Lebens wieder aufeinander: Der Gatte kehrt
aus dem amerikanischen Exil zurück, der Partner des One-Night-Stands
flieht nach seinem Bombenattentat auf Napoleon I. am Heiligen Abend
des Jahres 1800 in Maries Modegeschäft.
Das Libretto von Edmond Guiraud folgte dessen gleichnamigem Schauspiel über
Joseph de Clorivière, einen bretonischen Chevalier. Der
war Rädelsführer beim erwähnten Terror-Anschlag
mit einer „Höllenmaschine“, dem Dutzende Passanten
zum Opfer fielen. Guirauds Handlung entwickelt warme Sympathie
für die offensichtlich von Menschenwürde beseelten Aristokraten,
Verachtung für das opportunistische Volk sowie die hässlich-fanatischen
und selbstsüchtigen Jakobiner. Da nun aber nicht nur dieser
parteilich eifernde Blickwinkel auf die französische Konterrevolution,
sondern auch das von Ottorino Respighi kolportierte Bild der aus
Schwäche verführbaren Frau schräg erschien, wurde
von der für 1915 vorgesehenen Uraufführung Abstand genommen.
Auch später gab es keinen Bedarf, das Stück ins Licht
zu rücken, obwohl der Komponist zu den großen Profiteuren
der faschistischen Herrschaft in Italien und zum erfolgreichen
Zulieferer von deren Rom-Kult avancierte1. Uraufgeführt wurde „Marie
Victoire“ (unter Beibehaltung des französischen Librettos)
erst 2004 im Teatro dell’Opera in Rom. Nun erfolgte die Deutsche
Erstaufführung an der Deutschen Oper Berlin (wiederum französisch
gesungen).
Prächtige Sonnenaufgangsmusik quillt aus allen symphonischen
Rohren, durch die hörbar auch schon Puccini, Richard Strauss
und Debussy flossen und ihre Ablagerungen hinterließen. Der
Chor der Deutschen Oper erweist sich neuerlich als einer der leistungskräftigsten
im Lande: Als Sachwalter von Forderungen der Sansculotten droht
er aus dem Hintergrund und stürmt nach vorn. Überhaupt
ist er der entscheidende Faktor für die Imposanz der großen
Tableaus. Für die allerdings legt Michail Jurowski den Klangstrom
allzu breit an. In der pompösen Tonspur finden sich ausführliche
Menuett-Zitate eingelagert, die mit zarteren Tinten die Ära
des Rokoko beschwören. An kunsthandwerklicher Fertigkeit herrscht
auch hinsichtlich der Bühnenbilder kein Mangel. Ein teilweise
ramponiertes spätes 18. Jahrhundert deutet die nostalgisch
schöne Ausstattung von Su-sanne Thomasberger und Petra Reinhardt
an, zunächst hinter großen weißen Laken. Vorne
sammelt sich die von gesellschaftlichem Umbruch bedrohte Aristokratie
ums Rosenholz-Cembalo, während die Bedrohung durch jakobinische
Dekrete und den terroristischen Strafvollzug mit filmmusikalischer
Dramatik wächst.
Takesha Meshé Kizart bestreitet die Partie der liebenden
und leidenden Marie mit warmer sympathischer Stimme, die in den
Krisensituationen auch große Kraft entfaltet und förmlich
explodieren kann. Mit Markus Brück (als Ehemann), Germán
Vilar (als Liebhaber) sowie Stephen Bronk (als Gärtner und
interimistischem Gefängniswärter) sind auch die wichtigsten
männlichen Rollen gut besetzt. Doch die Inszenierung von Johannes
Schaaf dringt über die narrative Oberfläche nicht zu
einer kritischen Darstellung dessen vor, was das Stück hinsichtlich
(herbeigenötigter) Liebe und (gewaltsamen) Todes als schaurig-schönen
Abgrund anbietet. Das Rührstück riecht am Ende nicht
frisch. Die Erweckung dieser Konterrevolutionsoper aus ihrem Dornröschenschlaf
ist keine „Entdeckung“, sondern eine politische Bekundung:
Diese aufwändige Produktion nimmt einem neuen Werk den Platz
im Spielplan weg.
Ursprünglich war die Bayreuther Co-Intendantin Katharina
Wagner für die Inszenierung von „Marie Victoire“ verpflichtet
worden. Es wäre womöglich nicht ganz uninteressant gewesen,
wie sie mit einem politisch so klar verorteten Werk Respighis verfahren
wäre. Dass sie den Inszenierungsauftrag zurückzugeben
hat und nicht weiter mit einem Rechtsausleger kokettierte, mögen
ihr gute Geister geraten haben.
1 Zwischen den Uraufführungen von „Fontane di Roma“ und „Pini
di Roma“ fand der „Marsch auf Rom“ statt, und
mit „Feste romane“ legte der vom Duce höchstdekorierte
Komponist noch einmal nach.
Frieder Reininghaus
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