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Choreografin und Pädagogin
Zwei Publikationen über Tatjana Gsovsky · Ein Rückblick
von Vesna Mlakar
Max W. Busch (Hrsg. Stiftung Archiv der Akademie der Künste
Berlin): Tatjana Gsovsky – Choreographin und Tanzpädagogin,
Alexander Verlag, Berlin 2005, 330 S., 300 Abb., gebunden, ISBN
978-3-89581-105-0. Aktueller Preis: 24,90 Euro (statt 49,90 Euro)
Michael Heuermann: Tatjana. Leben und Werk der Choreographin
und Pädagogin Tatjana Gsovsky. K. Kieser Verlag, München
2007, 222 S., 32 S. Bildteil, 28 Euro, ISBN 978-3-935456-17-3
Fast ein halbes Jahrhundert prägte sie den Tanz in Deutschland,
war für Generationen von Tänzern ein Begriff: Tatjana
Gsovsky – heißgeliebt als Dozentin, bewundert aber
auch umstritten als Schöpferin modernen Tanztheaters. In den
ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg spielte sie eine
Schlüsselrolle und wusste souveräne Technik, gepaart
mit einer starken Persönlichkeit, zu vermitteln.
Durch Tanz erzählen
Mit zunehmendem Alter und bis zu ihrem Tod gewann neben der Choreografie
die Pädagogik an Bedeutung. Denn Tanzen bedeutete für
die Gsovsky immer vor allem eines: Darstellen. Wer zu ihr in die
Schule ging, erlernte nicht nur Disziplin und Handwerk seines zukünftigen
Berufs, sondern auch das Geheimnis, durch Tanz zu erzählen.
1967 eröffnet sie gemeinsam mit Gert Reinholm, einem ihrer
Schüler und wichtigen Partner, die Berliner Tanzakademie,
ein Institut für Bühnentanz.
Michael Heuermann, der 2001 über Tatjana Gsovsky an der Universität
Bremen promovierte, gehörte zu den letzten Tänzern, die
sie noch persönlich ausbildete. Ihm gebührt das Verdienst,
ihr von vielen Schicksalsschlägen begleitetes Leben anhand
von Dokumenten und Archivalien in einer gut lesbaren Monographie
aufbereitet zu haben. Seine einfühlsame, obgleich bisweilen
mit Unschärfen operierende Spurensuche, die neben der biografischen
Aufarbeitung auch die Vielseitigkeit der Tanzkünstlerin sowie
Qualität beziehungsweise stilistische Einordnung ihrer Bewegungssprache
und -dramatik in Worte zu fassen sucht, ist eine schöne Ergänzung
zu der von Max W. Busch im opulent bebilderten Großformat
vorgelegten Publikation. Die Lektüre der zahlreichen darin
zum Teil erstmals veröffentlichten Texte und Erinnerungen
aus Gsovskys Nachlass bleibt ein aufschlussreiches Erlebnis. Freie Bewegungskunst
Geboren wurde Tatjana Gsovsky am 18. März 1901 in Moskau als
Tochter einer 17-jährigen Schauspielerin. Der viel ältere
Vater, Wladimir Abramow, war ein in zaristischen Diensten stehender
General und Kammerherr. Nach dessen Tod heiratete die Mutter Claudia
den Advokaten Wassili Wassiljewitsch Issatschenko und zog nach
St. Petersburg, wo sie sich zu einer Anhängerin der Ideen
freier Bewegungskunst entwickelte. In ihrem Tanzstudio begeisterte
sich ihr Töchterchen für die amerikanische Ausdruckstänzerin
Isadora Duncan. Mit sieben wurde die kleine Tatjana durch „Dornröschen“ im
Mariinsky-Theater verzaubert.
Der Weg zur späteren Ballett-Ikone verlief
jedoch nicht geradlinig. Im Russland der Oktoberrevolution verliebte
Tatjana sich und brachte am 31. Mai 1920 ihre Tochter Lenja zur
Welt. Im selben Jahr gründete der Schriftsteller und Regisseur
Samuil Marschak in Krasnodar ein Kindertheater. Hier trat Tatjana
mit ihren 19 Jahren auf, choreografierte Ballettszenen, unterrichtete
und lernte Victor Gsovsky (1902-1974) kennen. Nachdem das Theater
nach nur vier Jahren im
Zuge der stalinistischen Repressionen 1924 schließen musste,
heiratete das junge Tanzpaar und reiste – ohne sich der Situation
des klassischen Balletts in Deutschland bewusst zu sein – nach
Berlin. Dort fanden sie sich inmitten „eines Zeitabschnitts
entfesselter Kunst“ wieder. Mary Wigman – für
Tatjana ein „Phänomen“ – erschütterte
und faszinierte die junge Frau. Kriegs- und Nachkriegszeit
Als sie sich beim Vortanzen das Bein bricht, scheint ihre Bühnenkarriere
beendet. Victor wird Ballettmeister an der Staatsoper, und 1928
eröffnen die Gsovskys eine eigene Schule, in der sie den Bogen
zum pulsierenden Ausdruckstanz über Unterrichtseinheiten in
modernem Tanz, Akrobatik und Atemtechnik spannen. Es dauert nicht
lange und Tänzer der Staatsoper kommen zum Trainieren. Tatjana
unterrichtet, wird Ballettmeisterin am Städtischen Opernhaus
in Essen (1935/36), choreografiert, organisiert und kompensiert
zunehmend, was ihr Mann unter dem Druck der 1930er-Jahre und zunehmendem
Alkoholkonsum nicht zu leisten im Stande ist. Aus Angst vor den
Nazis setzt er sich 1937 nach England ab. Tatjana bleibt in Deutschland
und arbeitet unter anderem in Leipzig, wo sie 1942 Leo Spies’ „Daphnis
und Chloe“ sowie 1943 Orffs „Catulli Carmina“ uraufführt.
1944 folgt Gottfried von Einems „Prinzessin Turandot“ in
Dresden. Nach Kriegsende übernimmt sie die Ballettdirektion
der Deutschen Staatsoper in Ostberlin und schafft es in den Jahren
1945 bis 1950, der Compagnie Profil zu verleihen. Allerdings gelingt
es ihr immer seltener, gegen den Widerstand der Kulturbehörden – man
wirft ihr Formalismus vor – ihre Projekte durchzusetzen.
Sie weicht aus und geht für zwei Jahre ans Teatro Colón
nach Argentinien.
Zurück in der Wahlheimat erteilen ihr die Berliner Festwochen
1952 einen ersten Choreografie-Auftrag. Neben „Apollon musagète“ (Strawinsky)
macht ihre Uraufführung von Hans Werner Henzes „Der
Idiot“ (nach Dostojewsky; mit Klaus Kinsky in einer Sprechrolle)
Furore. Im folgenden Jahr bringt sie „Hamlet“ zu Musik
von Boris Blacher heraus. Die Produktion wird von der Städtischen
(ab 1961 Deutschen) Oper übernommen – wie sie selbst: „erst
als Gast, dann als Trainingsleiterin, und zuletzt als Chefchoreografin.“ Diese
Funktion übt sie von 1954 bis 1966 aus, folgt 1959 der Berufung
zur Ballettmeisterin an die Oper Frankfurt und leitet parallel
dazu ab 1955 – später mit ihrem Schüler und Idealinterpreten
Gert Reinholm (1923-2005) als Co-Direktor – zudem eine eigene,
selbstständige Tournee-Truppe: das international renommierte „Berliner
Ballett“. Indem sie traditionelle klassische Formen mit Elementen des expressiven
Ausdruckstanzes verband, gelang es Tatjana Gsovsky, im Berlin der
Trümmerzeit die Basis für ein modernes Ballett zu schaffen.
Da sie sich vehement gegen jegliche Aufzeichnung ihres Œuvres
wehrte und posthume Aufführungen verbot, sind ihre Ballette
bis auf fotografische Momentaufnahmen seit langem von den Spielplänen
verschwunden. Tatjana Gsovsky wollte anregen. Ihre schriftlich
niedergelegten Erinnerungen und Gedanken vermögen dies bis
heute!
Vesna Mlakar |