|
Bloß nicht in die Kinderoper
Musiktheater für Jugendliche in Hannover und Bielefeld · Von
Christian Tepe Es muss nicht immer sofort ein eigenes neues Gebäude sein
wie die im Mai eröffnete Dortmunder Kinderoper. Die Erkenntnis,
dass Kinder und Jugendliche das Publikum von morgen sind, hat sich
inzwischen überall durchgesetzt. Fast jeder weiß, wie
der Oper als dem „Kraftwerk der Gefühle“ für
die so arg vernachlässigte ästhetische Bildung eine Schlüsselfunktion
zufällt. Die Diskussion um die schwer eingrenzbare Gattung „Kinder-oper“ bezieht
inzwischen auch die Formen des Musiktheaters für junge Menschen
im Alter von etwa 13 bis 18 Jahren ein. Mit bewundernswertem Erfindungsreichtum
treiben große und kleine Häuser musiktheaterpä-
dagogische Programme energisch voran und mancherorts hofft man
sogar, altehrwürdige Musentempel in Drehscheiben der Jugendkultur
verwandeln zu können.
Mitmachtheater...
Handlungsorientierung heißt das pädagogische Zauberwort
für die projektbezogene Arbeit mit Jugendlichen: Unterstützt
durch die Profis sammeln die Heranwachsenden als Darsteller, Tänzer
und Sänger in öffentlichen Aufführungen der von
ihnen selbst mitkreierten Stücke künstlerische Erfahrungen.
So präsentierten sich jüngst auf der großen Bühne
der Staatsoper Hannover 60 Jugendliche gemeinsam mit Ensemblemitgliedern
in „Culture-Clash: Die Entführung“, einem Amalgam
aus HipHop und Mozart. „Theater selber machen“ lautet
auch die Losung, die das „Junge Staatstheater“ in Oldenburg
für seine Workshops mit Kindern und Jugendlichen ausgegeben
hat. Gleichwohl bleibt neben solchen Beteiligungsprojekten die
Heranführung von Schülern an den Kosmos des Musiktheaters,
die Förderung ihrer rezeptiven und reflexiven Sensibilität
für das Operngenre eine der vornehmlichen Aufgaben in der
musiktheaterpädagogischen Praxis. ...und rezeptive Sensibilität
Dieser Aufgabe gerecht zu werden wird allerdings umso schwieriger,
je mehr die Jugendlichen einer Ästhetik der Kinderoper entwachsen.
Eine Aufführung von „Carmen für Schüler“,
zu der die Staatsoper in Hannover eingeladen hatte, demonstriert
das eindringlich. Gespielt wurde ein auf 70 Minuten gekürzter
Torso der aktuellen Neuinszenierung von Monique Wagemakers. Wie
nicht anders zu erwarten, verpufft die Wirkung der aus ihrem Kontext
herausgeschnittenen Highlights weitgehend. Die ihrer szenischen
Dynamik beraubte Habanera zum Beispiel wird mit eher lauem Beifall
quittiert, was gewiss nicht auf die attraktive Carmen von Khatuna
Mikaberidze zurückzuführen ist. Daran ändert auch
das geschickt lässige Agieren eines Moderators nicht, der
sich – ein eleganter dramaturgischer Kniff – unmerklich
aus dem Soldatenchor löst. Viele für Charakter und Atmosphäre
des Stückes konstitutive Passagen wie die Zwischenspiele oder
die Sequenz mit der Blumenarie sind komplett gestrichen. Die Aufführung
wirkt untertemperiert. Und das liegt nicht nur an der hochsommerlichen
Hitze draußen und der ungünstigen Vormittagsstunde.
Wie so oft bei Opernadaptionen für Jugendliche fehlt es an
der Fülle (beim Chor auch im elementaren quantitativen Sinne),
an der Opulenz und der hohen sinnlich-emotionalen Suggestion und
damit gerade an dem, was die konkurrenzlose Überlegenheit
der Kunstgattung Oper gegenüber den Multimedia-Welten aus
der Retorte ausmacht.
Wer die dramaturgischen Klippen des auf vermeintlich jugendadäquat
umgemodelten großen Repertoires umschiffen möchte, ist
gut beraten, nach neu komponierten Opern Ausschau zu halten. Allerdings
sind hier wiederum die guten Stücke rar, bei denen nicht die
Absicht, dem jungen Publikum zu gefallen, allzu aufdringlich durch
das Werk hindurchschimmert und damit dessen künstlerischen
Wert nivelliert. Ein gelungenes Beispiel ist „Erwin, das
Naturtalent“ von Mike Svoboda, 2005 in Stuttgart uraufgeführt,
und jetzt vom Theater Bielefeld in einer zur „Familienoper“ erweiterten
Fassung herausgebracht. In der als modernes Märchen daherkommenden
Satire auf den medial evozierten Superstar-Rummel gerät der
junge, glücklich-naive homo musicus Erwin in die Fänge
einer menschenverachtenden Eventindustrie. Die in diesem Metier
gebräuchlichen psychotechnischen Mechanismen zur Erregung
und Steuerung von Massenemotionen legt die Inszenierung von Intendant
Michael Heicks auf beängstigende Weise offen. Sonst halten
sich Aufklärerisches, Poetisches und Unterhaltendes die Waage.
Als Crossover von Jazz, Pop und Avantgarde zeigt sich Svobodas
Musik stets situationsgerecht, doch mit durchaus eigenem Ton. Die
vielfältigen Gelegenheiten zur gesanglichen und szenischen
Entfaltung werden vom Projektchor unter Mitwirkung von Schülern
Bielefelder Gymnasien flexibel genutzt. In der Titelpartei singt,
spricht und spielt sich der sympathisch treuherzige und doch auch
kesse Erwin von Susanne Reinhard in die Herzen der Zuschauer. Schade
nur, dass unter ihnen in der besuchten Vorstellung – von
ein paar jungen Farbtupfern abgesehen – das klassische Abopublikum
dominierte. Christian Tepe |