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Bewegung in die Schule bringen
Ein Tanzprojekt für Kinder und Jugendliche · Von Malve
Gradinger Musik und Tanz als selbstverständlicher Teil der Stammes-
und Dorfkultur: In vielen Teilen Afrikas und Asiens wachsen Kinder
vom Mutterleib an in den Tanz hinein. In deutschen Landen rührte
sich zwar Ende des 19. Jahrhunderts mit Wandervogel- und Jugendbewegung
ein Bewusstsein für einen jugendspezifischen Lebensstil. Davor
schon machte sich der Gymnasiallehrer Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852)
stark für eine natürliche Erziehung und für einen
regelmäßigen Turnunterricht. Doch viel mehr als die
Errungenschaft von „Turnvater Jahn“ hat unser Schulsystem
auch im 21. Jahrhundert nicht zu bieten. Im Gegenteil, Turnen und
Sport fallen häufig aus.
Die Erwachsenen hierzulande haben ihren Körper und die Notwendigkeit
der Bewegung erst wieder mit der von den USA herüberschwappenden
Fitnesswelle entdeckt. Es wird allenthalben gejoggt und an vielerlei
imposanten Geräten trainiert. Zu hoffen wäre, dass dieses
neue Körperbewusstsein auch ein Umdenken, einen Neuansatz
in der Kindererziehung bewirkt. Kinder und Jugendliche wollen sich
bewegen, haben einen natürlichen, einen „ursprünglichen“ Drang,
ihre Funktionslust und ihr kreatives Potenzial in Bewegung auszuloten – das
Phänomen Streetdance ist der beste Beweis. Und psycho-/neurologisch
ist es längst erwiesen: Bewegung, speziell tänzerische
Bewegung zu Musik, fördert emotionale, soziale und besonders
die kognitiven Fähigkeiten. Tanz und Schule
Diese Erkenntnis konkret umzusetzen, ist Anspruch und Ziel des
Münchner Vereins „Tanz und Schule“ (TuSch), den
Simone Schulte zusammen mit der Tanzpädagogin Andrea Marton
2005 in München ins Leben rief. Dass in der Grundschule kreatives
Arbeiten kaum gefördert wird, wusste Schulte durch ihre kleine
Tochter. „Ihrer dritten Klasse wurde die Theater AG gestrichen,
für sie überhaupt der Anreiz, zur Schule zu gehen“,
erzählt die studierte Theaterwissenschaftlerin. Ein Jahr Aufbauarbeit
steckte sie in das Projekt, zunächst ohne jede Subvention,
aber in einem generell günstigen Aufbruchsklima: Der Film „Rhythm
is it“ über das Berliner Projekt des Tanz-Pädagogen
Royston Maldoom und des Dirigenten Simon Rattle hatte einen Stein
ins Rollen gebracht.
In Zusammenarbeit mit der Bayerischen Theaterakademie und dem
Bayerischen Staatsballett konnte TuSch Maldoom für eine Lehrerfortbildung
einladen, die interessierte Tänzer
und Choreografen auf ihre Tätigkeit als Tanzprojekt-Leiter
in Schulen vorbereitete. Schulte und Marton nahmen Kontakt auf
mit Linda Müller von Tanz NRW, die bereits zwei Jahre zuvor
begonnen hatte, Tanz in die Schulen zu bringen. Ein kontinuierlicher
Ideenaustausch ergibt sich seitdem auch mit dem gerade gegründeten
Bundesverband „Tanz in Schulen“. Unterstützung
kommt zudem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Finanzierung
Beflügelt hat das Projekt natürlich die 2006 zugeteilte
Subvention durch das bis 2010 laufende Fördermodell „Tanzplan
Deutschland“ (TPD) der Kulturstiftung des Bundes, über
das wir in „Oper&Tanz“, Ausg. 01/08 berichteten.
Unter dem Oberbegriff „Access to Dance“ berücksichtigt
der „Tanzplan München“ zwar auch die Weiterentwicklung
des zeitgenössischen Tanzes und seine öffentliche Präsentation
(von ortsansässigen wie auch von Gastspiel-Produktionen).
Im Zentrum des Münchner Tanzplans steht jedoch der Bereich „Studies“ (sträflich
all diese englischen Titel!), der neben dem Ausbau der Tanzwissenschaft
innerhalb der Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität
vor allem TuSCH zugute kommt: „Der Verein kann dadurch die
Lehrerfortbildungs-Kurse bezahlen. „Das ist so die Basis“,
erklärt Schulte. „Die Kosten für die Projekte tragen
generell die Schulen. Ein 12-wöchiges Projekt, einmal in der
Woche eine Doppelstunde, kostet 980 Euro. Wir helfen aber der Schule
mit der Antragstellung für Unterstützung bei den städtischen
Bezirksausschüssen oder bei Sponsoren.“ Tanz an den Grundschulen
Dieses 14-tägige Sonder-Projekt im Juli konnte jedoch ganz
durch die TPD-Förderung gedeckt werden. Beteiligt waren diesmal – eine
Wiederholung für 2009 ist geplant – acht Grundschulen
aus Augsburg, München, Nürnberg, Regensburg und Rosenheim,
was viel Motivation seitens der Lehrer und Schüler voraussetze: „Turnhallen
müssen freigehalten werden. Einige Schulen gehen in die Gemeindesäle.
Der ganze Unterricht muss umstrukturiert werden. Grundsätzlich
arbeiten wir immer im Klassenverband. Wir wollen wirklich alle
Kinder erreichen, nicht nur die Geneigten, dann haben wir am Ende
nur die Mädchen. Und wir gehen nur in dritte und vierte Klassen,
weil man mit denen schon etwas fortgeschrittener arbeiten kann,
was den tänzerischen Ausdruck und komplexere Bewegungsabläufe
betrifft. Unsere Projektleiter, immer begleitet von einem Assistenten, üben
mit den Kindern jeden Tag drei Stunden Tanz-Techniken ein. In der
zweiten Woche wird eine kleine Choreografie dazu erarbeitet.“ So
Schulte zu Beginn der bayernweiten Unternehmung. Ü
ber die Schlussaufführung der jeweils siebenminütigen
Tanzstücke in der Nürnberger Tafelhalle berichtet Simone
Schulte begeistert: „Mit der Generalprobe vor der eigentlichen
Vorstellung waren die acht Klassen, insgesamt 220 Dritt- und Viertklässler,
von 8 bis 18 Uhr unterwegs. Die Schüler sagten ihre Stücke
selbst an, mit den gesetzten inhaltlichen Themen, mit denen sie
sich zwei Wochen lang beschäftig hatten. Alle Stücke
hatten einen dramaturgischen Bogen, entweder über die Musik,
ob Klassik, Hip-Hop oder Soundcollage, oder über die Arbeit
mit Requisiten.“ Es ist anzunehmen, dass das 14-tägige
Projekt eine gute Übung für das Bewegungs- und Musikgefühl
der Kinder war, ebenso wie für Teamarbeit und Selbstbewusstsein.
Ein zu begrüßender Nebeneffekt dieser Schul-Tanzprojekte
ist die Beschäftigung freier und ehemaliger Tänzer, die
Nebenjobs, beziehungsweise neue Berufsfelder suchen. „Wir
sind jetzt auf dem Weg, gemeinsam mit dem Bundesverband ‚Tanz
in Schulen‘ auch ein Coaching-System zu entwickeln“,
erläutert Schulte. „Die erfahrenen Pädagogen in
unserem Team beobachten die Unterrichtsweise der jeweiligen Projektleiter
und geben Hilfestellungen und Korrekturen.“ Vorläufige Bilanz
Solche Einzelprojekte, wie löblich auch immer, können
jedoch nur Vorbereitung, nur Ansporn sein zum Eigentlichen: Tanz
als reguläres Fach in den Schulunterricht einzuführen.
Bis dahin scheint es noch ein weiter Weg. Immerhin wird durch den
Verein TuSch und ähnliche Initiativen ein Bewusstsein für
die-se Lücke in Erziehung und Bildung geweckt. Die bisherigen
in etwa messbaren Ergebnisse fasst Simone Schulte zusammen: „Die
LMU-Tanzwissenschafts-Dozentin Katja Schneider dokumentiert mit
ihren Studenten einige unserer Projekte. Ihre 2009 herauskommende
Publikation wird sicher Einblicke in Funktion und Nutzwert unserer
Arbeit geben. In bester Kooperation mit dem Bayerischen Staatsballett
bekommen Schüler Führungen durchs Münchner Nationaltheater,
dürfen bei den Proben zuschauen. Wir gehen mit vielen Schulklassen
jetzt auch in die Vorstellung „Anna tanzt“, das dritte
Staatsballett-Projekt mit dem Münchner St. Anna Gymnasium.
Wir haben in den Schulen viele Fragebögen ausgeteilt. Und
wir machen die Lehrer laufend aufmerksam auf Veranstaltungen im
Rahmen von ‚Access to Dance‘. Ich denke, dass wir einfach
auch ein neues Publikum heranziehen. Das war ja auch grundsätzlich
mal unser Gedanke, diesen ‚Access to Dance’, eben Zugang
zum Tanz zu schaffen.“
Malve Gradinger
Hier können wir selbst etwas erfinden
Wir haben in einer Schule in München-Pasing vorbeigeschaut.
Und gestaunt, wie diese Viertklässler auf das Kommando von
Kurs-Leiterin Andrea Marton reagieren, wie sie in komplizierten
Figurationen umeinander kreisen, auf die dramatisch anschwellende
Musik im geschlossenen Feld über den Boden rollen. „Raumwege,
Boden- und Luftmuster sind meine Grundbausteine“, erklärt
Marton. Und mit Ellenbogen, Hand oder Kopf in die Luft zu malen,
mit dem Fuß oder dem ganzen Körper Muster auf den Boden,
scheint den Kindern einen Riesenspaß zu machen. Auf die Frage,
ob es nicht schwierig sei, die komplizierten Raummuster im Kopf
zu behalten, kommt es hellwach und überraschenderweise vor
allem von den Buben: „Nein, nicht so schwierig. Es ist lustig,
weil wir uns dabei bewegen können.“ Und weiter: „Im
Turnunterricht muss man die Übung einfach machen. Bei Andrea
können wir selbst etwas erfinden.“ Noch weiß niemand
in dieser Klasse, ob er/sie später privat Tanzunterricht nehmen
möchte. Aber die „Tanz-Tagebücher“ der Schüler – mit
gemalten Gliedermännchen in komplexen Bewegungsabläufen
und schriftlichen Erinnerungshilfen – sind beeindruckend.
Und Andrea Marton kann immerhin von Kindern berichten, die durch
diese gemeinschaftliche tänzerische Arbeit aus einer Schüchternheit
oder depressiven Verschlossenheit herausfinden.
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