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Villa Wahnfried am Grünen Hügel
„Parsifal“-Neuinszenierung in Bayreuth · Von
Juan Martin Koch
Erlösung! Nach Monaten mehr oder weniger unterhaltsamer Verlautbarungen,
Zwischenrufe und Untergangsfantasien aus dem Familienkreis Wagner,
dem Stiftungsrat oder der Presse öffnete sich Ende Juli doch
noch der Vorhang für die letzten Bayreuther Festspiele unter
Wolfgang Wagners Leitung. Dessen Tochter Katharina war es freilich,
die diesen Jahrgang unmissverständlich mit ihrer Handschrift
versah – einer Handschrift, die weniger zur Kalligraphie
denn zum Textmarker tendiert, durchaus passend also fürs Public
Meistersinging auf dem Bayreuther Festplatz oder den Computerbildschirmen
des Erdkreises.
Ihrer im Vergleich zum Vorjahr offenbar etwas entschärften
Produktion haftet im Umfeld der Nachfolgediskussion der schale
Beigeschmack eines mit aller Macht und wenig Feinschliff herbeiinszenierten
Skandälchens an, in deren Buh-Konsequenzen sie am Ende genüsslich
badet (auch in der zweiten Vorstellung am 4. August). Die bis auf
Michael Volles Beckmesser, Klaus Florian Vogts Stolzing und den
Festspielchor mäßigen Gesangsleistungen (um von Franz
Hawlatas Sachs zu schweigen) und das nicht mehr als solide Dirigat
Sebastian Weigles passen da ins flott übertünchte, darunter
aber merklich verblassende Festspiel-Bild.
Diskussionswürdiger war in jedem Fall das, was Stefan Herheim
zum „Parsifal“ zu sagen hatte, dem in Bayreuth bis
zu Schlingensiefs Gewaltakt noch unangetasteten Wagner-Heiligtum.
Auf drei Ebenen versucht Herheim ihm die Bühnenweihe auszutreiben,
mit unterschiedlichem Erfolg. Da wäre zum einen die Frage
nach der schwer zu greifenden Hauptfigur selbst, die Herheim über
die Formel vom „reinen Tor“ hinaus zu deuten versucht.
Bei ihm wird Parsifal nicht allein „durch Mitleid wissend“,
sondern vor allem durch die Erinnerung an eine Mitschuld. So sehen
wir im Vorspiel den Knaben Parsifal, wie er seine im Sterben liegende
Mutter Herzeleide verlässt und erst heimkehrt, als es zu spät
ist. Im weiteren Verlauf wird das Sterbebett zum zentralen Ort
der seelischen Innenschau auf Parsifals Verarbeitung des Kindheitstraumas.
Kundry verschwindet nach dem Erkenntnis-Kuss darin und kehrt, zur
Mutterfigur verwandelt, zurück; Herzeleide selbst gebiert
dort einen Säugling, der in einem schaurigen Ritual vor der
eigentlichen Gralsenthüllung geopfert wird. Auch Amfortas
trägt mit rotem Haar und weißem Nachthemd deren Züge,
was den eingewachsenen Christus-Dornen eine weitere Ambivalenz
zuträgt.
Dass dieser zunächst mit beeindruckender Vielschichtigkeit
durchgeführte Ansatz langsam an Bedeutung verliert, liegt
sicher nicht nur daran, dass der erste Aufzug auch als ein von
Parsifal, der zweite als ein von Gurnemanz durchlebter Albtraum
gelesen werden kann. Vielmehr gewinnen zwei weitere Interpretationsebenen
zunehmend die Oberhand, die eng miteinander verwoben sind. Denn
Herheim überblendet die Wagner‘sche Familiensaga mit
der Rezeptionsgeschichte des Werkes seit der Uraufführung
bis in die Frühphase der Bundesrepublik. Die Villa Wahnfried
bildet dafür den nahe liegenden Handlungsraum, das Grab Wagners,
zu dem der Souffleurkasten mutiert und dem schon der Knabe Parsifal
huldigt, birgt den Gral – Lebensquell für die einen,
Leidens-ort für die anderen.
Die Soldaten, die am Ende des ersten Aufzugs vom Ritual gestärkt
in den Ersten Weltkrieg ziehen, liegen zu Beginn des zweiten verwundet
in Klingsors Lazarett, wo Revuegirls und Krankenschwestern Trost
spenden. Kurze Zeit nur währt das Nazi-Reich, bis Parsifal
es mit einem Speerstich ins Wagner-Grab vernichtet, um im dritten
Aufzug als männliche Kaulbach-Germania den vertrockneten Brunnen
im Wahnfried-Garten wieder zum Sprudeln zu bringen. Hier wäscht
man sich den Dreck der Geschichte vom Leibe und bricht, die Entpolitisierungsparole
der Wagner-Enkel zitierend („Hier gilt’s der Kunst“),
in den Bundestag auf. Nach Reichs- und Naziadler, Schwan und einem
verwundeten Bundesadler – hinzu kommen noch die als schwarze
Engel der Geschichte beflügelten Personen selbst – sind
wir am Ende der nationalen Identitätsfindung dann bei der
Friedenstaube angekommen, ohne zu wissen, ob Herheim uns diese
nun als wahre Utopie oder nur als neuen Fetisch auftischen will.
In jedem Fall, so soll uns der erleuchtete Zuschauerraum vorspiegeln,
ist es nach dieser Brachialexegese nun an uns, den Parsifal für
die heutige Zeit neu zu denken und vor gefährlicher Vereinnahmung
zu bewahren.
Das alles hätte samt Videoeinspielungen eine in der Überfrachtung
mühsame Erfahrung sein können, doch dank des – analog
zum musikalischen Zeitverständnis des Werkes – virtuos
sich dehnenden und wieder zusammenziehenden, beinahe zu variablen
Bühnenbildes von Heike Scheele und der immer wieder verblüffend
auf Fingerzeige aus der Musik reagierenden Personenführung
Herheims war die Aufführung vor allem im ersten Aufzug von
beachtlicher szenischer Dichte.
Dirigent Daniele Gatti wiederum fand nur in der Kundry-Parsifal-Szene
des zweiten Aufzugs zu einer solchen, ansonsten standen seinen
Tempo-Dehnungen kaum dramatische Stauchungen gegenüber. Immerhin
aber gewährleistete er einen differenzierten Orchesterklang, über
dem Christopher Ventris und Mihoko Fujimura den bemerkenswerten
Versuch machen konnten, die Wandlungen der Charaktere durch sich
verändernde Stimmfärbungen hörbar zu machen. So
steigerte Ventris seinen zunächst lyrisch verhangenen Tenor
wohl ganz bewusst erst im zweiten Aufzug zu dramatisch gehärteter
Fülle, eine Entwicklung, die ihm technisch besser und glaubhafter
gelang als Fujimura, die nach dem Abstreifen ihres Marlene-Dietrich-Kostüms
gleichwohl ergreifende Momente hatte. Auf gutem Niveau, ohne allerdings
die notwendige deklamatorische Prägnanz zu erreichen, bewegten
sich Kwangchul Youns Gurnemanz und Detlef Roths Amfortas. Thomas
Jesatko fiel etwas ab. Verlass war, wie gewohnt, auf die Klangfülle
und Differenzierung des Festspielchores unter Eberhard Friedrich.
Ob dieser Parsifal indes die Festspiele aus der lange Jahre drohenden
Stagnation erlöst hat, wird sich erst noch erweisen müssen.
Juan Martin Koch
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