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Kunstmaximierung im Nordwesten
Ein Porträt des Oldenburgischen Staatstheaters · Von
Christian Tepe
Als der heute 33-jährige Markus Müller
in der Nachfolge von Rainer Mennicken zum neuen Generalintendanten
des Oldenburgischen
Staatstheaters bestellt wurde, sahen einige Beobachter in dem studierten
Betriebswirtschaftler nur einen willfährigen Verhandlungspartner
der Landeskulturbeamten in Hannover. Manche Unkenrufer befürchteten
neue Sparmaßnahmen, andere glaubten, dass ein an den vermeintlichen
Unterhaltungsbedürfnissen des Publikums orientierter Spielplan
durchgesetzt werden solle. Doch nun ist alles ganz anders gekommen.
Die Anzahl der Ensemblemitglieder im Musiktheater hat Müller
demonstrativ von elf auf vierzehn Sänger erhöht: „Ich
stehe ganz klar zum Repertoire- und Ensembletheater. Das Gesicht
des Theaters ist das Ensemble“, bekennt Markus Müller
im Gespräch mit „Oper&Tanz“. Nicht allein
was die künstlerische Identität und Qualität des
Hauses betrifft, trägt das Ensembletheater reiche Früchte,
es dürfte sich auch finanziell auszahlen, denn fast alle Stücke
seines Spielplans kann Oldenburg komplett mit eigenen Sängern
besetzen. Und dieser Spielplan sucht seinesgleichen. Zu den Premieren
der Saison 2006/07 gehören Schostakowitschs Operette „Moskau,
Tscherjomuschki“, Adams’ „The Death of Klinghoffer“,
Strauss’ „Ariadne auf Naxos“, Kagels „Aus
Deutschland“, „Les dialogues des Carmélites“ von
Poulenc sowie Glucks „Orphée et Eurydice“. Selten
dürfte an einem Haus von durchschnittlicher Stadttheatergröße
so kompromisslos auf die Musik des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart
gesetzt worden sein. Wobei dies alles Stücke sind, die eine
elitäre Vorstellung von Avantgarde aufbrechen. Es existiert
ein starkes zeitgenössisches Musiktheater, das alle Besucherschichten
anspricht, so die Botschaft des attraktiven Programms. Theater als Ort der Utopie
„Sehnsucht nach Utopien“ hat das neue Team als Losung
für
seine erste Saison ausgegeben. Mit der leitenden Operndramaturgin
Ina Karr konnte Müller eine der ambitioniertesten Musiktheatermacherinnen
im deutschsprachigen Raum für Oldenburg gewinnen. Zum Spielzeitmotto
erläutert sie: „Im gesellschaftlichen Leben gibt es
im Moment eine große Tendenz zu verharren, alles ist festgefahren.
Zugleich sehnen sich die Leute nach etwas Anderem, aber keiner
wagt mehr, diese Utopien auch wirklich zu entwerfen und auszusprechen.
Das Theater ist immer noch der Ort, wo man diese Sehnsucht fördern
sollte. In der Kunst gibt es sehr starke Figuren, die Utopien verkörpern
und leben, auch mit der Gefahr, dass sie dabei zerstört werden.
Das ist es, was das Theater so spannend macht und wodurch es eine
Perspektive eröffnet, die im Alltag untergeht.“ Bei
der Zusammenstellung der Premieren ging es für Ina Karr deshalb
auch nicht darum, den Ehrgeiz nach Ausgrabungen zu befriedigen,
sondern Stücke zu finden, die das Publikum wachhalten und
stets erneut überraschen: „Dieses Wort ,Rarität‘ mag
ich nicht, weil das so etwas Ikonenartiges, Porzellanartiges hat,
was im Museum steht – das ist nicht Theater.“ Terrorismus-Oper
Einer eher kritischen Auseinandersetzung mit der „Sehnsucht
nach Utopien“ begegnen die Zuschauer in John Adams’ Erfolgs-oper „The
Death of Klinghoffer“. Am Beispiel der Entführung des
Touristenschiffes Achille Lauro durch palästinensische Terroristen
und der Ermordung des jüdischen Passagiers Klinghoffer wird
demonstriert, was geschieht, wenn Idealismus in Fanatismus umschlägt.
Aufschlussreich ist die Oldenburger Produktion zunächst einmal
durch das, was sie weglässt. Besonders gravierend fällt
der aus dem Prolog entfernte Chor der exilierten Juden, dem kompositorischen
Komplementärstück zum Chor der exilierten Palästinenser,
ins Gewicht. Ausgerechnet die zentrale utopische Dimension des
Werkes, dass nämlich eine Versöhnung im Palästinakonflikt
nur aus einer Erkenntnis der Gemeinsamkeit im Leiden möglich
ist, wird damit fallen gelassen! Stattdessen wartet Regisseur Jens-Daniel
Herzog mit einer effektvollen, realistisch-suggestiven Szenenfolge
um die grausamen Geschehnisse auf dem Kreuzfahrtschiff auf. Bei
aller handwerklichen Perfektion bleibt die Inszenierung doch nicht
ganz frei von dem Hautgout, aus der realen Terrorgefahr und der
irrationalen Terrorhysterie dieser Zeit theatralisches Kapital
für einen oberflächlichen Reißer zu schlagen. Das
kontrastiert stark mit dem kontemplativen Charakter der Musik,
die bei dem umsichtig agierenden Olaf Storbeck in versierten Händen
liegt. Beeindruckend gelingt es dem von Thomas Bönisch sorgsam
präparierten Chor, aus der minutiösen Beobachtung der
sich ständig wiederholenden und dabei allmählich verändernden
melodisch-rhythmischen Strukturen einen fließenden Klangstrom
herauszubilden. Präsenz der Individuen
An den mutigen Vorstößen in musikdramatisches Neuland,
die das Staatstheater nicht erst seit heute unternimmt, sind die
30 fest engagierten Sänger und bis zu 45 Mitglieder des Extrachores
maßgeblich beteiligt. „Die Besonderheit des Opernchores
hier ist seine außerordentliche Vielfalt“, berichtet
Chordirektor Thomas Bönisch, der nach seinem Studium in Weimar
bei Professor Gert Frischmuth und Stationen als Chordirektor und
Kapellmeister in Bremerhaven und Rostock seit 1999 in Oldenburg
tätig ist. „Morgens werden, etwa bei Kagel, hochkomplexe
Strukturen studiert, abends geht mit Tanz und Musicalgesang bei ‚Anything
goes‘ ein Feuerwerk ab, am nächsten Morgen ist Mezza-di-voce-Technik
mit Glucks ‚Orphée‘ angesagt, während die
Abendvorstellung ,Klinghoffer‘ den Sängern wiederum
die Umstellung auf Adams’ Minimal Music abverlangt. Das steht
nur durch, wer wirklich infiziert ist mit dem Bazillus ‚Theater‘.
Und das sind alle meine Leute“, sagt Bönisch nicht ohne
Stolz. Wie anspruchsvoll der Beruf des Chorsängers ist, spiegelt
sich auch in den Schwierigkeiten wider, qualifizierten Nachwuchs
zu finden. Hier geht der Weg, verrät Bönisch, „nicht
mehr allein über Agenturen, sondern auch über Verbindungen
zu Hochschulen und Kollegen im Ausland“. Den Reiz eines kleineren
Chores sieht die VdO-Ortsdeligierte Elisabeth König darin,
dass jedes Individuum sehr präsent auf der Bühne sei
und sich häufig solistisch besetzte Rollen ergäben. Regelmäßig
macht der Chor auch durch eigene Produktionen auf sich aufmerksam,
wie zum Beispiel mit dem Themenabend „Viele Nationen im Einklang“,
bei dem Stücke von allen 15 im Opernchor vertretenen Nationen
in der jeweiligen Originalsprache interpretiert wurden. Alltägliche
Aufführungen in Englisch, Französisch, Italienisch und
Russisch sind ohnehin zur Selbstverständlichkeit geworden. Tanz ist wichtige Sparte
Wie steht es um das zweite darstellende Kollektiv, den Bühnentanz?
Etwas vollmundig wirbt man in Oldenburg mit dem Slogan von einem
Sechsspartentheater. Wer nachzählt, landet im Augenblick aber
nur bei der Zahl Fünf: Oper, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater,
das renommierte Niederdeutsche Schauspiel und Konzert – fehlt
noch der Tanz. „Ich komme nicht an ein Haus und baue eine
mir sehr wichtige Sparte ab, die sowieso im deutschen Raum die
geringste Lobby hat“, beteuert Markus Müller. Den Worten
sollen Taten folgen, wenn ab August 2007 eine zehnköpfige
Truppe um den Choreografen Jan Pusch das Staatstheater von seinem
einjährigen tänzerischen Scheintod wieder zum Leben erweckt.
Gemeinsam mit dem dann neu formierten Bremer Tanztheater, das wohl
auch zukünftig mit dem sehr erfolgreichen Urs Dietrich zusammenarbeiten
wird, soll eine „Tanzcompagnie Nord-West“ unter dem
Direktor Honne Dohrmann und mit der leitenden Dramaturgin Patricia
Stöckemann entstehen. Die Kooperationspartner erhoffen sich
Synergieeffekte, wie den gegenseitigen Austausch von Produktionen
und jährlich eine gemeinsame Arbeit mit allen 20 Tänzern,
die ebenfalls in beiden Städten gezeigt wird.
Fazit: Man hat sich in den letzten Jahrzehnten daran gewöhnt,
Kunst und Wirtschaft als Gegensätze zu betrachten. Mit Markus
Müller, der natürlich nicht nur Betriebswirtschaftslehre,
sondern auch Germanistik, Theaterwissenschaften und Philosophie
studiert hat, agiert in Oldenburg ein Repräsentant der neuen
zweigleisig orientierten Intendantengeneration. Dabei geht es Müller
aber um Kunstmaximierung und nicht um Profitmaximierung. Aktuell
steht ihm dafür ein Etat von 21 Millionen Euro zur Verfügung.
Unmissverständlich mahnt der Generalintendant, der die Zusammenarbeit
mit dem Ministerium für Wissenschaft und Kultur sonst als „absolut
vertrauensvoll“ beschreibt: „Bei weiteren Kürzungen
ist kein künstlerisches Ergebnis mehr erzielbar.“ Christian Tepe
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