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Das Wunder von Neukölln
35 Jahre Neuköllner Oper · Von Albrecht Dümling
Der Berliner Bezirk Neukölln gilt wegen seiner sozialen Probleme,
wegen hoher Arbeitslosigkeit und Jugendkriminalität als ein
Bezirk, den Touristen meiden. Hier, wo es oft am Nötigsten
fehlt, erscheint Oper als Luxus. Eine Neuköllner Oper ist
auf den ersten Blick eine Absurdität, ein Widerspruch in sich.
Gerade dies empfand der Komponist und Kirchenmusiker Winfried Radeke
als Herausforderung: Haben Kiez-Bewohner nicht den gleichen Anspruch
auf Hochkultur wie die Bürger von Charlottenburg und Wilmersdorf?
So gründete er im Jahre 1972 mutig einen Verein namens „Neuköllner
Oper“. Als arme Wanderbühne begann sie programmatisch
mit der „Bettleroper“, bis sie 1988 einen alten Ballsaal
an der Karl-Marx-Allee bezog und seitdem zu den produktivsten Bühnen
der Stadt gehört. Mit immer neuen Ideen erbringt sie den Beweis,
dass Musiktheater keine weltfremde Angelegenheit ist, sondern ein
Magnet sogar für Kiez-Bewohner. Dem Volk aufs Maul geschaut
Wie für das drei Jahre zuvor gegründete Jugendtheater
GRIPS gehört auch für die Neuköllner Oper Bertolt
Brecht zu den geistigen Vätern. „Oper“ meint hier
nicht Eitelkeiten von Primadonnen und Tenören, sondern Musiktheater
für ein breites Publikum, in vielfältigen Formen vom
Singspiel über Operette, Revue und Kindertheater bis zum Musical.
Man bemüht sich bei der Auswahl der Stücke um Aktualität
und Verständlichkeit und schaut dem Volk aufs Maul, ohne ihm
nach dem Mund zu reden. Wie Brecht und Weill die „Bettleroper“ zur „Dreigroschenoper“ transformierten,
so erlebt man in der Neuköllner Oper bekannte und unbekannte
Werke in oft überraschend neuer Perspektive. Wenn etwa ein
türkischer Regisseur (Yüksel Yoku) Leo Falls Operette „Die
Rose von Stambul“ inszenierte, verwandelte sich der Exotismus
von anno dazumal in eine aktuelle Aussage zum Multikulturalismus. Bekanntes und Unbekanntes Immer wieder kommt es zu spannenden Ausgrabungen. Wer kennt schon
Gretrys „Blaubart“-Oper von 1789, die als verkapptes
Revolutionsstück zu erleben war? Auch Franz Schuberts „Die
Freunde von Salamanka“, das Mozart-Fragment „Die Gans
von Kairo“, E.T.A. Hoffmanns Oper „Aurora“ oder
Rachmaninoffs Einakter „Aleko“ gehören nicht zum
gängigen Repertoire. Ein Höhepunkt der letzten Monate
war die Insektenoperette „Maja & Co“ nach einem
fragmentarisch überlieferten und erst 2003 entdeckten Werk
von Jacques Offenbach. Von diesem Einakter, von dem man nur den
Titel „Maya L’Abeille“ kannte, tauchten zwölf
Musiknummern auf. Da das Libretto fehlte, kreuzte Peter Lund das
Offenbach-Werk mit dem berühmten „Biene Maja“-Roman
von Waldemar Bonsels. Wolfgang Böhmer arrangierte Offenbachs
Musik für die sechsköpfige Käferkapelle und steuerte
auch einige Neukompositionen bei. Das Ergebnis dieser kreativen
Kreuzung war eine unterhaltsame Farce über menschlich-allzumenschliche
Eitelkeiten – dargestellt durch Tierfiguren, singende, tanzende
und springende Bienen, Libellen, Eintagsfliegen, Glühwürmchen
und Grashüpfer.
Überhaupt ist die Neuköllner Oper ein Mekka für die sonst
vernachlässigte Operette, die hier von Plüsch und Staub
befreit wird. Als man direkt nach dem Mauerfall Paul Linckes „Frau
Luna“ brachte, stand hinter oder vor der damaligen Sehnsucht
nach dem Mond die Suche nach der „goldenen“ Warenwelt
des Westens – beides unrealistische Träume. Wünsche
und Illusionen werden in der Neuköllner Oper nicht nur abgebildet
und wiederholt, sondern zur Diskussion gestellt. Die Operette ist
hier nicht, wie an anderen Orten, nur glamouröse Traumfabrik. Neue Wege
Um zur Neuköllner Oper zu gelangen, muss man zur Karl-Marx-Straße
fahren und dann viele Treppen hochsteigen. Dennoch ist dieses Haus
nicht „abgehoben“, nicht getrennt von seiner Umgebung.
Das Leitungsteam berücksichtigt vielmehr, dass Neuköllner
in der Regel die Fernsehprogramme und die Pop-Charts besser kennen
als Opern. Die Sozialkomödie „Das Wunder von Neukölln“ (frei
nach dem Film „Das Wunder von Mailand“) war mit vielen
lokalen Bezügen eine hinreißende Neuköllner Antwort
auf „Linie 1“, das Erfolgsstück am GRIPS-Theater.
Einen Ausflug in den benachbarten Bezirk Treptow unternahmen die „Geschichten
aus dem Plänterwald“ (sehr frei nach dem Horváth-Stück „Geschichten
aus dem Wiener Wald“). DDR-Vergangenheit arbeitete das Musical „Messeschlager
Gisela“ von Gert Natschinski unterhaltsam auf. Auch das Musical „Angela – eine
Nationaloper“, ein musikalisches Porträt der gegenwärtigen
Bundeskanzlerin, und die Oper „Friendly Fire“ von Klaus
Arp (Musik) und Andreas Bisowski (Libretto) über posttraumatische
Stress-Syndrome heimgekehrter US-Soldaten brachten aktuelle Stoffe
auf die Bühne. Neue Wege beschritten der Komponist Thomas
Zaufke und der Regisseur und Textautor Peter Lund mit den erfolgreichen
Musicals „Erwin Kannes – Trost der Frauen“ und „Held
Müller“, dem tragikomischen Porträt eines Arbeitslosen.
Da es in diesem Haus keine feste Bühne und keinen Orchestergraben
gibt, wird der Raum für jede Inszenierung verändert.
Die Bühnenbildner begreifen die Offenheit als Chance und werden
auch zu Architekten. Jede Inszenierung bringt so das Publikum in
eine neue Situation, reißt es aus der Konsumentenhaltung
heraus und beteiligt es aktiv. Bizets „Perlenfischer“ waren
in einer Schmugglerbar zu erleben, in der die Akteure die Bartheke
umkreisten. Bei Paul Abrahams Revue-Operette „Blume von Hawaii“ betraten
die Besucher einen eleganten Luxusliner auf Südseefahrt. Teamarbeit statt Ego-Trips
Zur Neuköllner Dramaturgie gehört die Teamarbeit, keine
künstlerischen Egotrips. Konzepte werden vielmehr gemeinsam
besprochen, entwickelt und umgesetzt. Auch Kinder werden hier ernst
genommen. Großer Beliebtheit erfreut sich das mit einfachsten
Mitteln gestaltete Märchenspiel „Pechvogel und Glückskind“,
das fragt, warum manchen alles gelingt, anderen nur wenig. Winfried
Radeke, der die Musik komponierte, hat für „sein“ Haus
viele Bearbeitungen betreut und auch größere Musiktheaterstücke
geschaffen, so die Oper „Bracke“ nach Klabund. Sein
neuestes Projekt ist die Kammeroper „Niemandsland“ nach
einem Textbuch von Michael Frowin und Ulrike Gondorf, die am 1.
März uraufgeführt wird. Es geht um Alzheimer und damit
um das rätselhafte Verhältnis von Erinnern, Vergessen
und Verdrängen.
Mit acht bis zehn Neuproduktionen pro Spielzeit, davon mehr als
die Hälfte Uraufführungen, ist die Neuköllner Oper
das produktivste Musiktheater Berlins. Details über die 35-jährige
Geschichte der Oper, über das Geheimnis der „Neuköllner
Dramaturgie“ und das bisherige Repertoire finden sich auf
der Website www.neukoellneroper.de. Angesichts des fehlenden Ensembles
ist die Bühne auf die Zusammenarbeit mit jungen Sängern
und Darstellern angewiesen. Seitdem Peter Lund als Professor an
die Universität der Künste wechselte, ist die Zusammenarbeit
mit dem dortigen Studiengang Musical/Show besonders eng. Manch
junger Künstler hat sich von Neukölln aus größere
Häuser in Hamburg, Stuttgart oder Basel erobert, ebenso junge
Librettisten und Komponisten, die ihre neuen Werke bei einem von
der GASAG Berlin unterstützten Opernwettbewerb eingereicht
haben.
Obwohl nicht alle Experimente gelingen, lohnt sich der Weg nach
Neukölln fast immer. Das Publikum, das zu neun Prozent aus
Neukölln kommt und zu gut vierzig Prozent aus den westlichen
Stadtbezirken, bleibt diesem Hause trotz der vielen Neuheiten treu.
Im Jahr 2001 betrug die durchschnittliche Auslastung etwa achtzig
Prozent. Angesichts der Sorgen der drei großen Opernhäuser
Berlins und der besonderen Probleme des Bezirks Neukölln grenzt
dies an ein Wunder. Albrecht Dümling
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