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Sieger ohne Zukunft?
Zehn Jahre balletttheater münchen · Von Vesna Mlakar
Das „balletttheater münchen“, die Tanzcompagnie
des Münchner Gärtnerplatztheaters, wird zehn Jahre alt.
Vesna Mlakar sprach für „Oper & Tanz“ mit dem
langjährigen Ballettdirektor und Chefchoreografen, Philip Taylor,
über Rückblick und Ausblick der Compagnie.
Mit Tanz verhält es sich wie mit Lyrik: Nicht alle mögen
ihn. Dennoch ist er „das vollkommenste aller Gedichte; ein
plastisches, farbiges, rhythmisches Gedicht, bei dem der Körper
nicht mehr als eine weiße Seite ist – jene Seite, auf
die das Gedicht sich schreiben wird“. Die Frage, ob er sich
bei seinem Amtsantritt erhofft habe, ein Jahrzehnt in Folge die
Geschicke der Ballettcompagnie des Staatstheaters am Gärtnerplatz
zu lenken, beantwortet Philip Taylor prompt mit einem „Ja“.
Zu Beginn der Spielzeit 1996/97 war das, als Intendant Klaus Schultz
den 1960 in Leeds geborenen und langjährigen Solisten des Nederlands
Dans Theaters als Ballettdirektor und Chefchoreografen ans Haus
holte. „Trilogie des Hoffens“ nannte der sympathische
Brite dann auch den ersten Tanzabend und schaffte es in kürzester
Zeit, aus dem verbliebenen Rest der alten Günter Pick-Truppe
und den aus Augsburg mitgebrachten 15 Tänzern ein neues, homogenes
Ensemble zu formen, das seinen Ideen und der oft atemraubend-dynamischen
Bewegungslust („Breath Bandits“, „Leaving the
Tunnel“) mit Enthusiasmus folgte – erfolgreich, wie
unter anderem die stetig steigenden Auslastungszahlen und seit einigen
Jahren ein alle Generationen umfassendes, gut informiertes Stammpublikum
beweisen.
Spiel zwischen den Stilen
„Was zählt, ist etwas zu bewegen.“ Mit diesem
Grundsatz hat Philip Taylor das Bild der Compagnie anfangs vor allem
durch eigene choreografische Arbeiten geprägt. „Bigger
Dreams/Small Dances“ – traumartig verspielt –
und „Kreaturen“ – ein Sechsteiler über Beziehungsgeflechte
in der anonymen Hektik eines Großstadtlebens – wurden
im Prinzregententheater uraufgeführt. Erstmals die volle Breite
seines Spektrums, die Vielfalt und Schönheit seiner Tanzsprache
zu offenbaren, gelang Taylor aber vor allem mit der „Nacht-Trilogie“.
Neue Wege schlug das Ensemble wenig später Ende 1998 ein, als
zum ersten Mal ein gemischter Abend mit drei Werken von Taylor („The
Last Sleep of the Virgin“), Rui Horta („Ordinary Events“)
und JiYí Kylián („Stamping Ground“) präsentiert
wurde. Im Vordergrund stand der Wunsch, das Spiel zwischen den verschiedenen
Tanzbereichen und Stilen zuzulassen und auf diese Weise „eine
Brücke zu überqueren“, was für Tänzer
wie Zuschauer gleichermaßen spannend sein kann: „Denn
wir können uns nur gemeinsam mit unserem Publikum weiterentwickeln.“
Zeitgleich erfolgte die Umbenennung in balletttheater münchen
– kurz btm, was auch der weiteren Etablierung der technisch
wie expressiv immer überzeugender auftretenden jungen Modern
Dance-Company zugute kam, zumal Gastspielreisen im In- und Ausland
eine größere Rolle einzunehmen begannen.
Philip Taylor: Wir waren gerade in vier Städten
Deutschlands und haben einen tollen Profit für das Haus erwirtschaftet.
Die beste Resonanz aber ist, dass wir, egal wo, immer noch ein zweites,
drittes Mal eingeladen werden! Das Niveau der Compagnie ist enorm
gestiegen. Erwartungen und die Aufmerksamkeit der Besucher im Zuschauerraum
haben sich gewandelt, sie sind konzentrierter geworden. Die Bedeutung
und das Verständnis von beziehungsweise für Tanz am Gärtnerplatztheater
hat eine ganz andere Farbe bekommen. Unsere Tänzer begeistern
in den verschiedensten Stücken und auch die Einführungen
vor den Vorstellungen, die ich persönlich mitgestalte, erfreuen
sich größter Beliebtheit. Natürlich gibt es einzelne,
denen zum Beispiel die Musik zu modern, ein Inhalt zu wenig griffig
ist... Hausintern gibt es zwei Parteien: die, die das btm lieben
und jene, die es hassen. Ein Dazwischen gibt es offenbar nicht.
Chancen für Neues
Im April 2001 folgte die deutsche Erstaufführung von Jane
Dudleys Frauensolo „Harmonica Breakdown“ und –
ein Novum außerhalb des Nederlands Dans Theaters – die
Einstudierung von Kyliáns „Lieder eines fahrenden Gesellen“.
Auch die erste Ballettpremiere im sechsten Taylor-Jahr stand ganz
im Zeichen der Begegnung und Konfrontation mit unterschiedlichen
künstlerischen Ansätzen, Formen und Ausdrucksmöglichkeiten
des modernen Bühnentanzes: Den Vierteiler „MODERN DANCE
I“ schmückte allerdings kein Name eines bekannten Künstlers.
Taylor wollte den Münchnern bewusst die Möglichkeit geben,
drei ausländische Choreografen kennen zu lernen, die noch niemals
in Bayern gearbeitet haben. Als letztem im Bunde gab er einem jungen
Tänzer aus dem Ensemble die Chance, mit einer eigenen Kreation
an die breite Öffentlichkeit zu treten: Cayetano Soto, der
mittlerweile – wie auch seine Ex-Kollegen Annett Göhre
(beide wurden für ein Projekt des Royal Balletts in Flandern
ausgesucht und bereiten in Schwerin einen „Sommer- nachtstraum“
vor) und David Middendorp (freie Szene Holland) – als freier
Choreograf tätig ist. Ein entscheidendes Kriterium für
Taylor bei der Programmauswahl war dabei die Eigenartigkeit der
Stücke, die zugleich auch etwas über den Menschen hinter
dem Werk erzählen sollten. Die heute freischaffenden Künstler
Jennifer Hanna, Dylan Newcomb und Jonathan Lunn verband –
gleich Philip Taylor selbst – nur eines: früher als erfolgreiche
Tänzer einer berühmten Compagnie angehört und sich
eines Tages entschlossen zu haben, diesen Platz aufzugeben, um eigene
Wege zu gehen. So entstand fast automatisch ein sehr weiter Bogen
zwischen stilistisch und ästhetisch ganz gegensätzlichen,
in sich aber einfach zu verstehenden Werken zeitgenössischen
Tanzes.
Philip Taylor: Durch das Loslassen des Ensembles
bekomme ich etwas Besonderes, sehr Wertvolles geschenkt. Zugleich
ist das eine wunderbare Chance, meine eigene Compagnie, die ich
natürlich recht gut kenne, in anderem Licht, sozusagen mit
fremden Augen zu sehen. Es ist faszinierend zu beobachten, welche
verborgenen Qualitäten im Verlauf der zum Teil völlig
anders gearteten Probenprozesse ans Tageslicht kommen.
Mlakar: Wie sieht Ihre Bilanz heute, ein Jahr
vor dem vielleicht einschneidenden Intendantenwechsel aus?
Philip Taylor: Es gab Produktionen, zum Beispiel
„At(t)empting Beauty“, die mich wirklich unglücklich
gemacht haben, die aber deswegen nicht weniger wichtig waren, da
man aus Projekten, die letztendlich nicht erfüllen, was man
selbst an Erwartungen hineingesteckt hat, viel lernen kann. Man
stellt Fragen, die entscheidend für den nächsten Schritt
sein können. Persönlich schaue ich locker in die Zukunft.
Aber natürlich, das btm ist mein Baby – und uns alle
beschäftigt, wie oder ob es weitergehen wird. Nur, was wir
auf keinen Fall tun dürfen, ist, aus Angst vor dem Morgen das
Heute zu zerstören.
Nicht mehr wegzudenken
Knapp ein Jahr nach seiner intensiven Beschäftigung mit dem
narrativen Ballett „A(t)tempting Beauty“ – einer
(zeit)losen Geschichte um die (Liebes-)Beziehung zweier Menschen
im Hier und Jetzt unserer mediengeprägten Kultur –, wendete
Philip Taylor sich wieder der kleinteiligeren Form zu, die erst
durch Aneinanderreihung verschiedener Bilder und Sequenzen abendfüllende
Länge gewinnt. Mal komplex, mal kompakt durchzieht kein roter
Faden die folgenden Stücke. Dennoch werden die einzelnen Teile
lose von einem Katalog an Fragen, die den Bewegungskünstler
immer wieder beschäftigen oder Jazzkompositionen eines Johannes
Faber („4 – Ein Tanz-Event“) zusammengehalten.
So wird „Frag den Tanz“ zu einer Folge prägnant
choreografierter Aphorismen, ausgezeichnet dazu geeignet, unter
Aussparung von konkreten Antworten eigene Meinungen zu formulieren.
Dabei zuzusehen „sollte einfach Spaß machen, ganz gleich
aus welchem Grund“.
Von 39 zwischen 1996 und 2005 getanzten Premieren und Kreationen
trugen 23 die persönliche Handschrift des Ballettdirektors.
Die Bandbreite spannte sich dabei vom Handlungsballett (ein Renner,
der auch in der Spielzeit 2006/07 wieder aufgenommen werden wird:
„Alice im Wunderland“) bis zur Choreografen-Werkstatt,
Taylors hauseigener Talentschmiede, deren sichtbare Spuren auch
eine mögliche Entscheidung des designierten Ulrich Peters gegen
die Konstellation Gärtnerplatztheater/btm nicht mehr wegwischen
kann.
Keine Schachfiguren
Neben Bekanntem in neuer Besetzung gibt es in der Jubiläumsspielzeit
wieder Uraufführungen von Gastchoreographen: Beim „Programm
III: LEBENSLINIEN“ kann man gespannt sein auf „I am
not“ von Mirko Hecktor. Taylor selbst, der seine Linie aus
Retrospektive, Neuem und Nachwuchsförderung auch künftig
weiterführen will, hat sich Aaron Jay Kernis’ „Air“
vorgenommen. Das Schmankerl aber dürfte eine weitere Übernahme
werden: „Overgrown Path“ von Jiri Kylian (Musik: Leos
Janácek, „Po zarostlém chodnícku“).
Welchen Paukenschlag Taylor außer der Wiederaufnahme seiner
„Goldberg-Variationen“ für die folgende Saison
plant, kann und will er im Augenblick noch nicht verraten. Immerhin:
Trotz der unsicheren Lage hat noch keiner gekündigt, was für
den offenen Umgang des Ballettchefs mit seinen Tänzern sprechen
mag: „Sie sind schließlich keine Schachfiguren, die
ich auf einem Spielbrett hin- und herschiebe. Da, wo die Compagnie
heute steht, kann man mit uns nur gewinnen. Dies auch zu erkennen,
liegt aber nicht in meiner Macht.“
Vesna Mlakar
Zur Jahreswende hat sich der Kultursender arte
bei Taylor gemeldet und sein mit einem Touch Schrägheit auf
Steve Reichs „The Four Sections“ choreografiertes
Stück „Angels that sing“ aus dem Jahr 2000 fürs
Fernsehen aufgezeichnet. Die Ausstrahlung ist für den Herbst
vorgesehen. Laufende Vorstellungen:
23., 29. Januar, 5. Februar: „Programm
II: IMAGINE! „
5. (Premiere), 7., 21. März, 7., 27., 30. April, 9., 12.
Mai: „Programm III: Lebenslinien“
8., 11. Juli: „Tänzer choreografieren“,
Staatstheater am Gärtnerplatz. Karten: Tel. (089) 21 85 19
60. Weitere Infos unter: www.staatstheater-am-gaertnerplatz.de
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